© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Aus der Mottenkiste der Geschichte
Begriffspatent: Die Rede vom „Aufstand der Anständigen“ ist bald sechzig Jahre alt
Thorsten Hinz

Seit fünfzehn Jahren, wenn Politik und Medien sonst nichts zu sagen wissen, wird er beschworen: der Aufstand der Anständigen. Die schrille ARD-Moderatorin Anja Reschke und der blasse ARD-Mann Rainald Becker rufen nach ihm, und SPD-Vizechef Ralf Stegner, der so gern den düsteren sozialdemokratischen Mephistopheles mimt, es mangels Geist und Charme aber nur zum häßlichen Gesicht einer abgewirtschafteten Partei bringt – Stegner also twittert: „Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen gegen die rechten Hetzer und Demokratiefeinde von AfD & Pegida.“ 

Als Urheber des Begriffs gilt Altkanzler Gerhard Schröder, der im Oktober 2000 nach einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge proklamierte: „Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen, wegschauen ist nicht mehr erlaubt!“ So ganz genau guckte man am Ende doch nicht hin, denn die Täter paßten partout nicht ins Propagandakonzept: Als Brandstifter  stellten sich zwei Araber heraus, die gegen das israelische Vorgehen im Gaza-Streifen protestieren wollten. Doch die Losung hatte die gewünschte Wirkung längst getan, und der Anschlag bot den Vorwand, um fragwürdige Initiativen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus mit Steuergeld auszustatten.

Doch das Begriffspatent liegt nicht bei Schröder – er holte die prägnante Formel sicher unwissentlich aus der Mottenkiste der Geschichte –, sondern bei dem Journalisten und Schriftsteller Kurt Ziesel (1911–2011), dem langjährigen Chef der konservativen und unionsnahen Deutschland-Stiftung und Autor des Deutschland-Magazins. Als junger Mann war Ziesel 1931 in die NSDAP eingetreten und nach 1933 als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und später als Kriegsberichterstatter tätig gewesen. Seine NS-Nähe bekannte er nach 1945 offen als Irrtum und großen Fehler, forderte aber ein, seinen und Millionen ähnlicher Irrtümer differenziert, individuell und im Kontext der Zeitumstände zu betrachten. Er sei der Partei beigetreten, weil er sich als Sozialist gefühlt hätte. Seit den fünfziger Jahren verwahrte sich gegen eine pauschale Disqualifizierung ehemaliger Parteimitglieder durch die Medien.

Steine aus dem Glashaus geworfen

Federführend waren keine amerikanischen Umerzieher und auch nicht die 68er – die gab es noch gar nicht –, sondern rückgratlose Journalisten und Intellektuelle, die  ihr Fehlverhalten in der NS-Zeit kompensieren und unter den neuen Umständen ihre Brauchbarkeit nachweisen wollten. Sie wiederholten ein Verhaltensmuster, dem sie bereits 1933 gehorcht hatten, als sie vom demokratischen auf das nationalsozialistische Lippenbekenntnis umschalteten.

1957 veröffentlichte Ziesel das Buch „Das verlorene Gewissen“. Der Untertitel lautete: „Hinter den Kulissen der Presse, der Literatur und ihrer Machtträger von heute“. Es ist längst nur noch antiquarisch zu bekommen. Der Autor kannte viele Pappenheimer persönlich und nannte Beispiele, darunter Walter E. Süskind (1901–1970), der zu den leitenden Politikredakteuren und führenden Köpfen der Süddeutschen Zeitung gehörte. Süskind hatte 1946 als Sonderberichterstatter über den Nürnberger Prozeß die Hoffnung ausgedrückt, die alliierten Richter möchten sich vom Argument der Verteidigung, Schriftstücke aus dem Dritten Reich seien schon bei ihrer Niederschrift tendenziös eingefärbt gewesen und deshalb ihr Beweiswert oft zweifelhaft, „zu unserem Heil (...) nicht von dem Grundsatz abbringen lassen: ‘verbum stat’, das Wort steht“. 

Süskind, Vater des Schriftstellers Patrick Süskind und des Journalisten Martin E. Süskind, später ebenfalls Redakteur bei der Süddeutschen und Chefredakteur der Berliner Zeitung, warf mit Steinen aus dem Glashaus. Er war – wie die meisten, die von Ziesel kritisiert wurde – kein Nationalsozialist gewesen, hatte sich aber im Dritten Reich als äußerst wendiger und dienstwilliger Zeitungsmacher erwiesen.

Ziesel zitierte unter anderem aus einem 1934 verfaßten Artikel, der behauptete, in der Kunst Stefan Georges lebe derselbe Geist „wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone“. In einer Besprechung des Buches „Berliner Romantik und Berliner Judentum“ ist „von Klatsch und Rabulistik jener jüdischen Kreise des vorigen Jahrhunderts“ die Rede und davon, „daß rassisch ganz judenfremde und sogar judenfeindliche Männer trotzdem ihrer Faszination erlegen sind“.

Attacken auf Kristina Söderbaum

Ein Jochen Willke tat sich in der Münchner Abendzeitung mit Attacken auf die Schauspielerin Kristina Söderbaum, die Ehefrau des Regisseurs Veit Harlan, hervor und forderte ein faktisches Berufsverbot. Für jemand, der das NS-System „propagandistisch gefördert“ habe, schrieb er, könne es kein Pardon geben. 1942 hatte Willke in einer Gauzeitung einen hymnischen Geburtstagsartikel auf Adolf Hitler verfaßt. Unter der Überschrift „Der erste Soldat seines Volkes“ hob er insbesondere des Führers Tapferkeit, Bescheidenheit und seinen – Anstand hervor! Ein Wort, das steht!

Interessant auch Ziesels Beobachtung, daß die „begeisterten Nationalsozialisten“ unter den Journalisten viel eher als die Opportunisten bereit waren, das literarische Werk von NS-Gegnern zu respektieren. Ziesel nennt die Schriftsteller Werner Bergengruen und Walter von Molo, die der „inneren Emigration“ angehörten und die er im Rahmen seiner publizistischen Möglichkeiten unterstützt hatte. Ziesels lapidares Resümee lautet, „daß das, was nach 1945 geschah, auch schon 1933 üblich war“.

Im Nachwort schreibt er (im Original durchweg kursiv gedruckt): „Solange man Menschen in Deutschland wegen ihrer geistigen Haltung und ihrer politischen Irrtümer verfolgt, bleibt die Demokratie eine Farce, ist jedes Wort über Humanität und Menschenwürde nicht mehr glaubhaft. Nach dem Aufstand des Hasses und der Opportunisten nach 1945 sollte endlich ein Aufstand der Anständigen in Deutschland folgen.“ 

Dieser Aufstand kam nicht zustande. Die zivilcouragierten Opportunisten in Politik und Medien, die heute so lautstark nach ihm rufen, wollen lediglich ihren Triumph totalisieren.