© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Die Distanz zur Schule wächst
Frühsexualisierung: Der Elternprotest gegen Sex-Unterricht an Baden-Württembergs Schulen geht in die nächste Runde
Martin Voigt

Die „Demo für alle“ in Stuttgart erhält immer mehr Zulauf. Gut 5.000 Teilnehmer waren es im Oktober. Diesen Sonntag werden wieder Tausende Eltern, Großeltern und komplette Familien auf dem Schillerplatz erwartet. Sie wollen die Gender-Ideologie und die Sexualisierung von Kindern stoppen. Was ist mit Sexualisierung gemeint? Und warum schlagen die Wellen so hoch?

Anfang des Jahres 2014 hatte der Lehrer Gabriel Stängle mit einer Petition gegen den grün-roten Bildungsplan 2015 über 192.000 Unterschriften eingesammelt. Damit hatte er das Vorhaben der Landesregierung offengelegt, die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ fächerübergreifend in den Schulen zu verankern. 

Sexuelle Minderheiten, also etwa Lesben, Schwule oder Bisexuelle, würden immer wieder Opfer von Diskriminierung werden, besonders an Schulen, sagen die Autoren des Bildungsplans. Um dies einzudämmen, dürfe Heterosexualität nicht länger als das einzig Normale gelten. Heteronormativität und Homophobie avancierten zu Kampfbegriffen der schwul-lesbischen Szene und verbreiteten sich im grünen und linken Lager. Der Alternativentwurf heißt „Akzeptanz sexueller Vielfalt“, und der soll als Leitprinzip in jedes Schulbuch.

Sorgen um Diskriminierung sind nicht stichhaltig 

Der Schutz von Minderheiten ist ein gesellschaftliches Anliegen. Das wird von Stängle und den Demonstranten auch nicht in Frage gestellt. Doch die oft als homophob beschimpften Bildungsplangegner vermuten andere Absichten hinter den bundesweiten Kampagnen der Lesben- und Schwulenverbände (LSVD). Nur drei Prozent aller Diskriminierungen sind eine Folge der sexuellen Identität der Opfer, zitieren sie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Die häufigsten Ursachen für Diskriminierung sind ethnische Herkunft, Behinderung, Alter, Geschlecht und Religion. Für die Opfer dieser Formen von Diskriminierung scheint die Landesregierung trotz Inklusionsdiskurs wenig Interesse zu zeigen. 

Warum soll ausgerechnet die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ zu einem dominierenden Thema in den Schulen werden? Diese Diskrepanz treibt die Bildungsplangegner freilich nicht zu Tausenden auf die Straße. „Könnte es sein, daß es um mehr geht als um Toleranz, zum Beispiel darum, ein bestimmtes Menschenbild zu verankern?“ fragen sie in einem Video auf ihrer Homepage. Der grüne Bildungsplan würde darauf abzielen, daß bereits Grundschüler ihre sexuelle Identität hinterfragen. 

Das soziale Geschlecht (Gender) und die sexuelle Orientierung seien nur anerzogen, sagen die Vertreter der Gendertheorie. Im Verbund mit dem LSVD haben sie großen Einfluß auf die Bildungspolitik in grün und rot regierten Ländern.

Eltern, die wochentags kaum Einfluß auf ihre Kinder haben, erwarten hingegen, daß die Bildungseinrichtungen ihre Erziehungsziele auch in Fragen der Sexualität unterstützen. Doch von der Kita bis in die Oberstufe setzt die unter dem Gendervorzeichen stehende „sexuelle Bildung“ alles daran, genau dies nicht zu tun.  

Kinder und Jugendliche werden während ihrer Identitätsfindungsphase gezielt verunsichert. Die Intention dieser „sexualfreundlichen“ Pädagogik formuliert der Kieler Sexualpädagoge Uwe Sielert in dem Aufsatz „Gender Mainstreaming im Kontext einer Sexualpädagogik der Vielfalt“. „Lust, Zärtlichkeit und Erotik“ sollen als „Energiequelle“ unabhängig von „Ehe und Liebe“ vermittelt werden. Die traditionelle Familie soll im Unterricht nicht mehr als Normalfall ersichtlich sein. Sielert plädiert dafür, Heterosexualität, Generativität und Kernfamilie zu „entnaturalisieren“.

2012 veröffentlichte Elisabeth Tuider, die bei Sielert promovierte, das Praxisbuch „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Die Übungen normalisieren jede erdenkliche Form von Sexualität und schaffen Unterrichtssituationen grenzverletzender Interaktion. Teenager sollen einen Puff einrichten, der vielen sexuellen Orientierungen gerecht wird. Sie sollen gemeinsam klären, was für sie zur Sexualität dazugehört oder was gegen Trennungsschmerz hilft. Bereit liegen Dildos, Taschenmuschis, Aktfotos und weiteres Sexspielzeug und daneben unter anderem die Bibel, ein Kreuz oder ein Kopftuch. Empfohlen werden Massageübungen sowie pantomimisches Darstellen und Besprechen sämtlicher Sexualpraktiken.

Diese Umsetzung der Sielertschen Pädagogik sorgte 2014 für mediales Aufsehen, und die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ verschwand von mancher Empfehlungsliste zur Sexualaufklärung. Auch der Bildungsplan 2015 wurde im Zuge der Proteste defensiver formuliert. 

Erzieher stehen nicht 

unter Generalverdacht

Doch die Initiatoren der „Demo für alle“ sehen darin nur einen vordergründigen Erfolg. Von Stuttgart geht das Signal aus, daß die „sexualfreundliche“ Indoktrination in Kitas und Schulen eine raumgreifendere Gefahr ist als die Reichweite einzelner Aufklärungsbücher.

Die unausgesprochene Ursache des Streits um die Bildungspläne ist ein Kulturkampf, dessen zentrales Konfliktfeld die Sexualmoral ist. Welche Sexualmoral, welches Menschenbild manifestiert sich in den bildungspolitischen Erziehungszielen? Von klein auf werden Kinder an das emanzipatorische Prinzip herangeführt, daß alles normal ist, solange man seine sexuelle Lust spürt und lebt. Der sexuellen Befreiung von Kindern soll keine Grenze gesetzt sein. 

Broschüren des Stuttgarter Jugendamts, etwa „Mädchen und Jungen zwischen Körperleben, Entdeckungslust und Grenzverletzungen“ beruhen auf empirisch nicht belegten Annahmen zur frühkindlichen Sexualität. „Sexuelle Bildung“ soll den sexuellen Lustgewinn der Kinder fördern. Ein anderes Wort dafür ist „Frühsexualisierung“.

Kinder, die ihre ersten Lebensjahre tagsüber von ihrer Mutter, der primären Bindungsperson, getrennt sind, reagieren auf die Ersatzbindungspersonen um sie herum wie freie Radikale mit erhöhter Bindungsdynamik. Dieses Suchen nach emotionaler und körperlicher Nähe kann falsch aufgefaßt werden. Es besteht die Gefahr, daß Erwachsene in diesem Kuschelbedürfnis eine sexuelle Konnotation zu erkennen glauben, die kleinen Kindern fremd ist. Broschüren, die eine pädagogische Förderung der frühkindlichen Sexualität empfehlen, legen eine fragwürdige Interpretation solcher Betreuungssituationen nahe. 

Kritiker dieser Pädagogik sind weit davon entfernt, Erzieher unter Generalverdacht zu stellen. Ihnen geht es darum, auf die ideologische Weichenstellung aufmerksam zu machen. Und sie haben Erfolg. So wurde etwa der „Ratgeber für Eltern zur kindlichen Sexualerziehung vom 1. bis zum 3. Lebensjahr“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nach Protesten zurückgezogen. Kindliche Erkundungen der Genitalien Erwachsener können „manchmal Erregungsgefühle bei den Erwachsenen auslösen“, hieß es darin. Explizit alle Bezugspersonen der Kinder sollten sich von der Broschüre angesprochen fühlen.

Die im Tenor der „sexuellen Bildung“ verfaßten Kita-Broschüren empfehlen, Kinder spielerisch zu sexuellen Handlungen untereinander anzuregen. Diese frühkindliche Lustförderung ist ganz im Sinne des Gender Mainstreaming, das die Familie „entnaturalisieren“ will. Den Zusammenhang von Sexualität, Partnerschaft und Liebe begreifen Kinder erst ab circa neun Jahren. Die frühe Überakzentuierung von Sexualität kann die Entwicklung einer paarbezogenen Sexualität und damit die Grundlage des traditionellen Familienmodells schwächen. 

Die Stimulierung des Sexualtriebs zieht sich wie ein roter Faden durch die neoemanzipatorische Sexualpädagogik und wird besonders offensiv, wenn sie einer pornographisch vorgebildeten Teenager-Generation ihr pädagogisches Okay hinterherschickt. Die Botschaft der anschaulich formulierten Sex-Tips könnte deutlicher nicht sein: „Probiert, was euch gefällt!“

„Make Love“ heißt ein an Schulen eingesetztes Aufklärungsbuch, und der Name ist Programm. Auf der Hälfte der Seiten sind farbige Hochglanzfotos, die junge Erwachsene beim Sex zeigen. Die vaginale oder orale Penetration ist auch in Nahaufnahme zu sehen. Die Kapitelüberschriften lauten „Faß dich an. Masturbation und Petting“, „Das erste Mal. Und jetzt geht’s los“ oder „Durch die Betten. Technische Feinheiten“. Um die Heranführung an das erste Mal erfolgreich abzurunden, verteilt die Autorin, die mit ihrem Buch häufig Schulen besucht, bunte Kondome an Acht- und Neuntkläßler. Jeder, der am Ende der Stunde nicht beherzt zugreift, muß sich wie ein „Spätzünder“ vorkommen.

Zu Beginn der Adoleszenz entwickelt sich das Lustzentrum im Gehirn schneller als das psychische Vermögen, einen anderen Menschen in einer Beziehung voll anzunehmen. Sexuelle Verhältnisse im Teenageralter dauern im Schnitt nur wenige Monate. Die Sexualpädagogik von Organisationen wie Pro Familia (JF 42/13) macht es sich zur Aufgabe, promiskuitives Verhalten zu fördern. Online-Broschüren betonen, wie normal es ist, „längere Zeit mit beiden Geschlechtern“ zu experimentieren. Sie erklären „viele verschiedene Sex-Praktiken, Stellungen und Varianten“ und wie Oral- und Analverkehr am besten gelingt.

Liebe und Treue stehen nicht auf dem Lehrplan  

„Eltern verstehen sehr genau, daß diese proaktive und tabufreie Sexualpädagogik in die Intimsphäre ihrer Kinder eingreift und ihr natürliches Schamgefühl verletzt“, sagt die Mitorganisatorin der „Demo für alle“, Hedwig von Beverfoerde der jungen freiheit. „Sie wollen nicht, daß Ideologen ihre Kinder mit Bildern, Texten und Spielen zu sexuellen Phantasien und Aktivitäten anregen. Das ist seelische Gewalt gegenüber Kindern – via Schulpflicht.“

Die Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2015 sowie die Forsa-Studie „Die Zukunft der Familie“ (2015) zeigen, daß sich Jugendliche nicht nur tollen Sex als Lebenssinn wünschen, sondern Geborgenheit, Liebe und Vertrauen in einer tragfähigen Beziehung und eine Kernfamilie mit eigenen Kindern. 

In diesem Kontext verweisen bindungsorientierte Sexualpädagogen wie der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut Christian Spaemann darauf, daß eine Sexualpädagogik, die diese Wünsche ernst nehmen würde, viel erklären müsse. Zum Beispiel, daß Sex intensiver auf die menschliche Psyche wirke, als es die „Habt Spaß“-Pädagogik darstellt. Sie müsse darauf hinweisen, daß die Bindungsfähigkeit nach Beziehungsbrüchen abnehmen kann. Anstatt 14jährige zu ermuntern, ihre sexuelle Identität zu überdenken, müsse eine moderne Sexualpädagogik die Frage stellen, wie sich aneinandergereihte Ex-Beziehungen auf die Intimität und Exklusivität in der späteren Beziehung auswirken, aus der dann einmal die gewünschte Familie entstehen soll. Ganz bewußt konterkariere die sich selbst als „sexualfreundlich“ klassifizierende Pädagogik zudem eine auf tragfähige Beziehungen hinauslaufende Sexualmoral. Das sei der springende Punkt. Denn die wenigsten Eltern befürchteten, daß ihr Kind in der LSVD-Aufklärungsstunde homosexuell würde. Aber sie stellten mit Entsetzen fest, daß die Schule nicht mehr ihr Verbündeter in Erziehungsfragen sei.