© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

Das Tausendstel eines Atomkerndurchmessers
Was Einstein sich nicht vorstellen konnte: Gravitationswellen erstmals nachgewiesen
Heiko Urbanzyk

Diese Entdeckung übersteigt die menschliche Vorstellungskraft: Vor mehr als einer Milliarde Jahren sind zwei große schwarze Löcher miteinander kollidiert und verschmolzen und haben dabei dreimal die Masse unserer Sonne, in Gravitationswellenstrahlung umgewandelt, als reine Energie ins Weltall hinausgeschleudert. „Diese Strahlung hat im September letzten Jahres auf der Erde den Abstand von zwei 40 Kilogramm schweren Spiegeln um weniger als ein Tausendstel eines Atomkerndurchmessers verändert, und wir waren in der Lage, dies zu messen! Unvorstellbar!“ Die Reaktion von Professor Benno Willke vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, dem sogenannten Albert-Einstein-Institut (AEI), bringt für Laien verständlich auf den Punkt, was Mitte September 2015 die Physiker der Erde in Wallung versetzte und nach der Bestätigung im Februar 2016 die Korken knallen ließ: Die Existenz von Gravitationswellen ist erstmals wissenschaftlich nachgewiesen worden. Die Menge an Energie war so riesig, daß tatsächlich Raum und Zeit erzittern – auch heute noch.

Auf 100.000 Datenkanälen die Signale gemessen

Rückblende: Am 25. November 1915 trug Albert Einstein vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin den Kern seiner allgemeinen Relativitätstheorie vor. Er ging davon aus, daß es diese Raumzeit-Kräuselungen gäbe, sie aber niemals nachzuweisen wären. 100 Jahre später, am 14. September 2015 um 10:50:45 Mitteleuropäischer Zeit, war Einsteins Skepsis Makulatur. Zu diesem Zeitpunkt beobachteten die Detektoren in den US-amerikanischen Forschungsanlagen Hanford und Livingston beide das Signal GW150914. Doch es sollte noch Monate dauern, bis die Physiker am Advanced Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (aLigo) in den USA sich sicher waren, es wirklich mit Gravitationswellen zu tun zu haben. „Es ist nicht nur eine Frage der Computerpower. Wir haben 100.000 Datenkanäle, die Temperatur, Luftdruck, Vibrationen und so weiter messen, damit man hinterher sagen kann, ob es eine Störung gab, ob jemand laut gesungen hat oder ob ein Schauer kosmischer Strahlung hereinkam. Das muß alles angeschaut und bewertet werden, viele Leute diskutieren miteinander“, sagte Karsten Danzmann dem Netzmagazin ingenieur.de vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Diese Nachweise bräuchten ihre Zeit, so Danzmann. Er forscht selbst am AEI und war an der Entdeckung der Gravitationswellen beteiligt.

Welche Informationen die Forscher den Gravitationswellen entnehmen, ist so erstaunlich wie die damit verbundenen Zahlen: „Unsere Ergebnisse zeigen, daß GW150914 von der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher stammt, die 36fach beziehungsweise 29fach so schwer wie unsere Sonne waren, und am Ende das verschmolzene Schwarze Loch eine Masse vom 62fachen der Sonne hat. Wir konnten außerdem ableiten, daß das verbleibende Schwarze Loch ‘Spin’ besitzt, also um die eigene Achse rotiert“, wie es in der deutschen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse heißt. Der vollständige Aufsatz „Observation of Gravitational Waves from a Binary Black Hole Merger“, der die Entdeckung der Gravitationswellen verkündet, erschien in den Physical Review Letters. „Schließlich zeigen unsere Ergebnisse, daß die Quelle von GW150914 in einer Entfernung von mehr als einer Milliarde Lichtjahren lag. Somit haben die Ligo-Detektoren ein wirklich bemerkenswertes Ereignis beobachtet“, erläutern die Wissenschaftler weiter. Ein mythischer Unterton und ein Hauch Star-Trek-Idylle schwingen mit: „Es geschah vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis!“ Es folgen Ausführungen über die Masse der Schwarzen Löcher vor und nach der Verschmelzung, die jeden Laien schwindelig werden lassen und in der jegliche bildliche Vorstellungskraft übersteigenden Erkenntnis gipfeln: „Tatsächlich war die Leistung von GW150914 in Gravitationswellen für einen kurzen Augenblick mehr als zehnmal höher als die gesamte Leuchtkraft aller Sterne und Galaxien im beobachtbaren Universum.“

Maßgebliche Beteiligung deutscher Forscher

Welche Apparaturen konnten diesen „kurzen Schluckauf, [der] von dem gewaltigsten Ereignis produziert wurde, was Menschen je beobachtet haben“ (Dr. Harald Lücke, AEI), überhaupt wahrnehmen? Zwei Vakuum-Röhren, die als Detektoren im aLigo-Experiment dienen. „Mit diesem Meßinstrument können räumliche Längenänderungen im kleinen Maßstab der Lichtwellenlängen exakt gemessen werden“, erklärt Detlef Stoller auf ingenieur.de. Üblicherweise stünden solche Interferometer in einem Laserlabor. Die beiden Röhren im aLigo-Experiment seien dagegen jeweils exakt vier Kilometer lang und stünden in einem 90-Grad-Winkel zueinander. Ein Laserstrahl werde durch einen Strahlteiler in zwei Laserstrahlen aufgeteilt und in die Röhren geschickt. Am Röhrenende hingen als Vierfach-Pendel ausgelegte extrem plane Spiegel und reflektierten das Laserlicht wieder zurück. „Ein Detektor zeichnet das Lichtspiel der Überlagerung der beiden reflektierten Laserlicht-Wellen auf und kann so Änderungen der Röhrenlänge erkennen.“ Wenn eine Gravitationswelle eintrifft, schwankt die Spiegelposition um den hundertstel Durchmesser eines Wasserstoffatoms – das war’s.

Forschende des AEI in Hannover und Potsdam und vom Institut für Gravitationsphysik der Leibniz-Universität Hannover haben, wie die AEI-Pressemitteilung unterstreicht, entscheidend zur Entdeckung beigetragen: „mit der Entwicklung und dem Betrieb extrem empfindlicher Detektoren an den Grenzen der Physik“.

„Das aufstrebende Feld der Gravitationswellenastronomie steht vor einer strahlenden Zukunft“, frohlocken die beteiligten Forscher in ihrem Physical-Review-Beitrag. Eine Zukunft, die deren Vordenker Einstein nicht einmal selbst für möglich hielt. Bruce Allen, Direktor am AEI in Hannover: „Einstein selbst glaubte, Gravitationswellen wären zu schwach, um sie nachzuweisen, und er glaubte nicht an die Existenz Schwarzer Löcher. Aber ich denke, daß er nichts dagegen hätte, sich geirrt zu haben!“

Der jüdischstämmige Deutsche Albert Einstein, mit dem all dies begann, verlor am 24. März 1934 die Staatsangehörigkeit im Wege der Strafausbürgerung. 1923 legte er im damaligen Palästina den Grundstein für die Hebräische Universität in Jerusalem. Diese stellte anläßlich des 133. Geburtstags im Jahr 2012 das digitale Erbe Einsteins ins Netz – mehr als 80.000 Dokumente. Einsteins Geburtstag am 19. März wird in Israel jedes Jahr als Tag der Wissenschaft begangen. Dieses Jahr wird sein Stern wohl besonders hell leuchten.

 Physical Review Letters: prl.aps.org