© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

Gesundheitssystem und Asylbewerberzustrom
Das alles kostet viel Geld
Ira Austenat

Noch im September 2015 titelte die Welt, daß es keinerlei gesundheitliche Konsequenzen hinsichtlich der Prävalenz von Krankheiten durch die Flüchtlingskrise geben werde – obwohl es aus Fachkreisen bereits Hinweise und Warnungen diesbezüglich gab. 

Keine Konsequenzen? Ist es naiv, zu glauben, daß die Präsenz von etwa einer Million Menschen mehr in Deutschland keine Konsequenzen generieren sollte?

Zum Vergleich: Die Verhandlungsträger der Gesetzlichen Krankenkassen konstatierten im Rahmen der turnusgemäßen jährlichen Kostenverhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin eine Steigerung der Gesundheitskosten für die Versicherten von 1,6 Prozent im ganzen Jahr 2016 als Obergrenze des Verkraftbaren. Sind nun also 2,6 Prozent Kostensteigerung deshalb trotzdem verkraftbar, weil sie zur Hälfte auf Flüchtlinge entfallen?

Unideologische Fachdiskussionen sind in Deutschland schwierig geworden. Das Ringen um Inhalte und vor allem das Ziehen von erforderlichen Konsequenzen auf dem Gebiet des Seuchenschutzes und zur Prävention gerät zur politischen Schlammschlacht mit dem in unseren Tagen offenbar unvermeidlichen Links-Rechts-Stellungskrieg.

 Wir sind in Deutschland gern unzufrieden mit unserem Gesundheitssystem. Wir schimpfen auf jede Marginalie, als breche die Welt zusammen. Doch schauen wir über den Tellerrand: Jeder, der im Ausland einmal ernstlicher medizinischer Hilfe bedurfte, konnte sich schnellstens davon überzeugen, daß wir ein phänomenal perfektes Niveau der Gesundheitsversorgung besitzen. Dies gelingt überdies zu für den einzelnen recht moderaten Preisen. Es mag Verbesserungsmöglichkeiten in der medizinischen Spitzenforschung geben, ja. Das ist für ein Land, das bis 1918 mehr Nobelpreise holte als der Rest der Welt, sicher verbesserungswürdig. Aber das deutsche klinische und ambulante Versorgungsniveau der Bevölkerung ist beispielhaft.

Das langjährige Fehlen einer übers Hinnehmen und Verwalten hinausgehenden Einwanderungspolitik (Werner Patzelt, 2015) bringt unser Gesundheitssystem seit Monaten an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Allein durch ehrenamtliches Engagement und guten Willen werden jedoch weder die Herausforderungen noch die Kosten zu bewältigen sein. Wieviel werden wir bereit sein, für uns und unsere Kinder an Versorgungseinbußen in Kauf zu nehmen, wenn Engpässe nicht die Ausnahme, sondern die Regel werden? Erinnert sei an die vielen hochemotionalen Debatten über eine  Priorisierung in der medizinischen Versorgung. Wie wird die Diskussion aussehen, wenn es um Priorisierung der Kinderversorgung geht?

 Ein Beispiel: Wir haben im vergangenen Jahr erstmals in den 25 Jahren des geeinten Deutschlands erlebt, daß die Versorgung mit Impfstoffen nicht gesichert werden konnte. Erstmals überhaupt wurde eine zentrale Erfassung des Mangels – in Form von Meldelisten des Paul-Ehrlich-Instituts, Deutschlands oberster Impfstoffinstanz – erforderlich. Recherchen für Berlin zufolge läßt sich ein solcher Zustand nicht einmal unter den Bedingungen der planwirtschaftlichen Mangelverwaltung der DDR bis ins Jahr 1965 zurück eruieren. Öffentliche Ursachendiskussion? Fehlanzeige.

 Einerseits ist die Herstellung von Impfstoffen hochkomplex. Sie ist nicht vergleichbar damit, den Wasserhahn ein kleines bißchen weiter als gestern zu öffnen, nur weil einem Gutmenschenpolitiker heute morgen beim Aufstehen ein erhöhter Bedarf klar wurde. Es bedarf produktionstechnisch bedingter Vorlaufzeiten von über einem Jahr.

Ob es erwünscht ist oder nicht: Es muß der massiv gesteigerte Bedarf als Ursache diskutiert werden dürfen. Nicht um Stimmungen aufzugreifen oder gar zu schüren, sondern um den hervorragenden Impfstandard unseres Landes aufrechtzuerhalten. 

Produktion und Menge beruhen auf langjährigen Bedarfswahrscheinlichkeiten. Der Grundstein des Impfstoffes  muß ähnlich einer kapriziösen Orchidee langfristig gezüchtet werden. Produzierte Chargen müssen ein aufwendiges Zulassungsverfahren durchlaufen und unterliegen Verfallsdaten, die eine beliebige Überbevorratung unmöglich machen. 

Besonders komplex ist dieses System im Bereich der Kinderimpfstoffe. Die Bedarfsanpassung beruht auf langjährig berechneten Geburtenzahlen, welche die Grundlage für die Bedarfswahrscheinlichkeiten bilden. Man könnte es mit einer Obstbaumpflanzung vergleichen. Man pflanzt in diesem Jahr ausreichend Birnbäume, damit in vier Jahren alle eine Birne bekommen. Stellt man in zwei Jahren fest, daß es nicht reicht, kann man zwar neue Bäume pflanzen, wird die Früchte jedoch nicht nach zwei Jahren mit den anderen ernten können. 

Schlimmer noch ist aber, daß aktuell nicht einmal erkennbar wäre, daß – um im Bild zu bleiben – die Modalitäten einer Nachpflanzung überhaupt diskutiert würden. Eine Bedarfsplanung aber ist unmöglich, wenn eine ungesteuerte Zuwanderung für die kommenden Jahre jede Bedarfsermittlung unmöglich macht.

 Andererseits ist die umgehende Impfung der Flüchtlinge aus seuchenhygienischer Sicht dringend wünschenswert. Die Zuwanderer kommen aus Ländern mit völlig zerrütteten Gesundheitssystemen. Plötzlich stehen Krankheiten, die hierzulande ihren Schrecken lange verloren haben, wieder auf dem Plan.

 Seit Monaten steht kein Einzelimpfstoff gegen Kinderlähmung zur Verfügung. Wochenlang gab es ihn nicht einmal in Kombination. Es gab gar nichts. Wochenlang geriet das Besorgen von Masernimpfstoff zum Wünschelrutensuchen nach der Wasserquelle. Für Grippe-impfstoff für unter Fünfjährige war der Markt seit November leergefegt. Auch Präparate für über Fünfjährige waren vorübergehend nicht mehr verfügbar. Zwischenzeitlich gelang es im Privatversichertenbereich, auf Grippeimpfstoffe auszuweichen, die von der gesetzlichen Kasse nur in Ausnahmefällen erstattet werden. Doch auch hier waren die Kapazitätsgrenzen seit Dezember erreicht.

Wenn man überhaupt Antworten auf Ursachen der Versorgungskrise erhält, so sind diese sehr diffus. Die Firmen würden ja weltweit agieren, erfährt man da – und die Umstellung von Schluckimpfungen auf Injektionsimpfungen für Kinderlähmungen in einigen afrikanischen Ländern wird bemüht.

Das mag eine Rolle spielen. Aber eine solche Umstellung wird nicht von einem Tag auf den anderen beschlossen. Der zeitliche Vorlauf hätte es möglich gemacht, Kapazitäten zu schaffen. Als weitere Ursache wird der Ausfall einer Charge eines großen Herstellers genannt. Möglich, aber Chargen sind spezifisch für jeden einzelnen Impfstoff. Der Ausfall einer Charge erklärt nicht, daß es außer für die Gebärmutterhalskrebs- und die Hepatitis-Impfung für alle verfügbaren Impfstoffe ausgeprägte Engpässe gibt. Chargen sind auch schon in den vergangenen Jahren ausgefallen. Das Argument zieht nicht. Ob es erwünscht ist oder nicht: Es muß der massiv gesteigerte Bedarf als Ursache diskutiert werden dürfen! Nicht um Stimmungen aufzugreifen oder gar zu schüren, sondern um den hervorragenden Impfstandard unseres Landes aufrechtzuerhalten. 

Hier wäre mehr Rückgrat erforderlich. Die Flüchtlinge kommen nicht nach Deutschland, weil das Land so schlecht und fremdenfeindlich wäre. Sie kommen, weil das genaue Gegenteil der Fall ist: weil es weltoffen und freigiebig in jedweder humanitären Hilfe, namentlich in seinem Sozialstandard ist. Diesen zu halten, kostet Geld.

Was wird die Kostenentwicklung für Auswirkungen haben? 26 Prozent der Flüchtlinge sind jünger als 16 Jahre. Nach deutschem Impfplan kostet ein nach medizinischem Standard geimpftes Kind bis zu diesem Alter etwa 890 Euro allein durch die Impfstoffkosten. In dieser Summe sind Verbrauchsmaterial, die ärztliche oder Schwesternleistung noch nicht berücksichtigt. Die aktuellen Flüchtlingszahlen zugrunde gelegt, bedeutet das pro Jahr 104 Millionen Euro nur für Kinderimpfstoffe.  Welche Leistungen wird die gesetzliche Krankenkasse über Bord werfen müssen, um der Kostenexplosion zu entgehen?

Nach Expertenmeinung ist es unumgänglich, Flüchtlinge auf Tuberkulose zu untersuchen. Das Infektionsschutzgesetz fordert dafür zwingend eine Röntgenuntersuchung der Lunge. Der Zustrom brachte das System an den Rand des Kollapses. 

Ein anderes Beispiel: Viele Jahre galt die Tuberkulose in Deutschland als kaum präsent. Das Robert-Koch-Institut erfaßt die Tuberkulosefälle nach Geburtsland. Die dokumentierte Erkrankungshäufigkeit bei Menschen mit ausländischem Geburtsort beträgt 33,6 Prozent (zum Vergleich: 2,5 Prozent bei in Deutschland Geborenen). Der Anteil der Tuberkulosepatienten in Deutschland mit nichtdeutscher Herkunft beträgt mittlerweile 62 Prozent. Im Oktober 2015 schätzte ein bundesweites Expertenteam die Notwendigkeit, eintreffende Flüchtlinge einem Tuberkulosescreening zu unterziehen, als unumgänglich ein.

Nach Infektionsschutzgesetz schließt dies eine Röntgenuntersuchung der Lunge ein. Der ungeheure Zustrom brachte das System an den Rand des Kollapses. Röntgenbilder müssen nach qualitativem Standard angefertigt werden, und die Bilder müssen ärztlich befundet werden, und dies zum Teil von einer Ärztegeneration mit wenig Routine in der Tuberkulosediagnostik. Je jünger die Ärzte, um so mehr stellte für sie die Tuberkulose in den vergangenen Jahren aufgrund unseres hervorragenden Gesundheitssystems kaum ein Thema dar.

Unter diesem Sachdruck wurde das Robert-Koch-Institut gutachterlich zu Rate gezogen, ob eine Röntgenuntersuchung nicht verzichtbar wäre. Es wurde deutlich, daß ein „Ja, wir schaffen das“ hier eben nicht funktioniert. Das Fachgremium bestätigte die Notwendigkeit des Verfahrens. Es ist den Experten hoch anzurechnen, daß sie sich nicht von Gewünschtem leiten ließen, sondern von Notwendigem. Denn es ist nicht akzeptabel, den sehr guten deutschen Diagnosestandard auszuhöhlen und damit der Tuberkulose Tür und Tor zu öffnen.

 Zum Erkennen einer Tuberkulose gehört auch ein Hauttest. Qualitativ adäquat und in Deutschland zugelassen ist hierfür der RT23-Test. Dieser ist seit vielen Wochen nicht lieferbar. Auch auf Nachfragen beim Großhandel sind keinerlei Aussagen dazu zu erhalten, wann sich das ändern könnte. In politisch korrektem Neusprech wird die ersatzweise  Verwendung von „neuesten Diagnosemethoden“ beschworen und so suggeriert, daß hier ein Modernisierungsimpuls generiert würde. Vollmundig wird der Interferon-Gamma-Test gepriesen. Ja, dieser Test ist modern, aber das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) formuliert vorsichtig: „Für Kinder unter fünf Jahren ist die Gleichwertigkeit des Tests mit dem bisherigen Hauttest nicht erwiesen.“ Es empfiehlt zwar den Interferon-Gamma-Test, betont aber gleichzeitig die Notwendigkeit der Durchführung eines Hauttests bei Kindern, die jünger als fünf Jahre sind.

Da der Großhandel für das zugelassene Präparat leergefegt ist, wird die Verwendung eines in Deutschland nicht zugelassenen Präparates empfohlen. Aufgrund der fehlenden Zulassung erfolgt diese Testung voll und ganz in Ermessen und Verantwortung des einzelnen Arztes. Infolge der fehlenden Zulassung ist es auch keine generelle Kassenleistung. Nach Auskunft der Apotheke liegt die kleinste verfügbare Ampulle bei einhundert Euro. Wie viele Eltern werden sich das leisten können? Wie immer in Mangelsituationen blüht die Nischenwirtschaft. Immerhin so sehr, daß sich das DZK bemüht sah, von den alternativ beworbenen serologischen Schnelltests ob ihrer geringen Aussagefähigkeit abzuraten.

 Ein Kollege berichtete, daß in der Schule eines Patienten eine offene Tuberkulose aufgetreten sei, die Testung der Bezugspersonen aufgrund des Präparatemangels jedoch nicht auf alle Kontaktpersonen ausgedehnt wurde. Er habe jetzt Kinder in der Sprechstunde, deren Eltern – selbst Ärzte – ihre Kinder auf eigene Kosten testen ließen. Wird das auch in der Kraft der Reinigungsfrau, der Verkäuferin oder alleinerziehenden Mutter liegen? Oder werden diese eben warten müssen, ob ihr Kind erkrankt? 






Dr. med. Ira Austenat, Jahrgang 1971, nach Studium und Facharztausbildung in den Universitätskinderkliniken Berlin und im Deutschen Herzzentrum arbeitet sie seit 1997 als niedergelassene Kinderärztin. Auf dem Forum argumentierte sie zuletzt für das Impfen („Eine Diskussion im Wohlstand“,  JF 42/15).

Foto: Ein Flüchtlingsjunge aus dem syrischen Damaskus wird am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales unter anderem gegen Mumps und Masern geimpft (2015): Seit dem Einsetzen der Flüchtlingswelle wurden allein im Gebiet der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin viele tausend Impfungen an Flüchtlingen und anderen Einwanderern vorgenommen.