© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

CD-Kritik: Jon Vickers
Im Gedenken
Jens Knorr

Er sang keine Partien, er spielte keine Rollen, er lebte Schicksale, so brennend genau, so fürchterlich wahr, daß alle Fragen nach dem Schönen und Guten verstummen mußten – und gerade als verstummte sich unabweisbar stellten. Er war Florestan, Tristan, Otello, Samson, Don José, Énée, Peter Grimes, und sie waren er: Jon Vickers. Am 10. Juli vorigen Jahres ist der seit längerem an Alzheimer erkrankte kanadische Tenor mit 88 Jahren in einem Pflegeheim gestorben.

Mit leichter Verzögerung gedenkt Warner Classics seiner. Am 15. Oktober 1998, zehn Jahre nach Ende seiner Gesangskarriere, hatte Vickers seine künstlerischen Überzeugungen coram publico dargelegt. Das privat mitgeschnittene Gespräch mit Jon Tolansky im Barbican Cinema, London, ist erstmals in voller Länge veröffentlicht.

Auf der zweiten CD gibt es die legendäre „Winterreise“-Aufnahme von 1983 zu hören, mit Geoffrey Parsons am Flügel, die alle Vorzüge und Nachteile dieses Ausnahmesängers versammelt: seine voluminöse, rauhe, poröse Stimme, sein entgrenztes Singen, nein: Agieren, in dem Furcht und Hoffnung, Aus- und Zusammenbruch in eins zusammenschießen. Jedes der schauerlichen Lieder eine Bühnenszene, nicht von Schubert, sondern von und mit Jon Vickers. Auf dem Theater haben Tote und Lebende gleiche Rechte.

In Memoriam Jon Vickers Schubert – Winterreise  Warner Classics, 2015 www.warnerclassics.com