© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

Schwächlinge sind leichte Opfer
In einer durch Dauertherapie autoaggressiv gewordenen Gesellschaft herrschen Erbitterung und Zorn
Thorsten Hinz

Die „rechte Gewalt“, vor der eben wieder massiv gewarnt wird, ist häufig eine Frage der Zuschreibung und Definitionshoheit und manchmal auch nur eine Halluzination. In den meisten Fällen wird man den Begriff in Anführungszeichen setzen müssen. Doch gibt es zweifellos Taten, die ihn rechtfertigen. Der Roman „Bauchschmerzen“ von Wolfgang Gottschalk (wohl ein Pseudonym), der 2009 erschien, gehört zu den seltenen Versuchen, sie aus der unverstellten Sicht eines Täters zu erzählen. Auf ansprechendem literarischen Niveau spitzt er die Gewalt von rechts – ohne Anführungszeichen – konsequent zu und entmystifiziert sie gleichzeitig. Die öffentliche Resonanz war gering („Im Namen des Täters“, JF 38/09), um so mehr nimmt seine Aktualität seither zu.

Das Buch enthält eine Beichte, eine Lebensbeichte ohne Reue, die ein mehrfacher Mörder vor dem Gefängnispfarrer ablegt. Der 1977 geborene Täter hat eine fünfköpfige türkische Nachbarfamilie brutal und genußvoll massakriert. In sieben Sitzungen, bei denen ein Aufnahmegerät läuft, legt er die Genese des Verbrechens dar. 

Der Sohn aus liberalem Frankfurter Elternhaus absolvierte ein Humanistisches Gymnasium im Westend und begann ein Philosophiestudium. Die Eltern hatte er insgeheim früh zu verachten gelernt, weil sie ihm „keinerlei Begriff von Ehre und Mut“ vermittelten. Als er sich gegen angetanes Unrecht körperlich wehrte, schickten sie ihn zwecks Aggressionabbau zum Ballettunterricht. Instinktiv begriff er, daß die Toleranz, die sie ihm predigten, ein Ausdruck von Schwäche, von Harm- und Wehrlosigkeit war.

Für die Schwäche schämt er sich vor seinem besten Freund Akin, einem Türken. Die Freundschaft schützt ihn vor Übergriffen durch ausländische Kinder. Doch als Akin ihm seine Kickbox-Künste an einem wehrlosen Jungen vorführt, erkennt er – erkennen beide –, daß sie durch eine Kluft getrennt sind. Akin verachtet die Deutschen und liebt es, sie zu demütigen; nur beim Erzähler macht er eine Ausnahme. Als dieser für den Gepeinigten Partei ergreift, setzt die gegenseitige Entfremdung ein.

Der Staat hat sich und seine Bürger politisch entwaffnet

Kritiker würden das als „klischeehaft“, oder, nach den Maßstäben des sozialistischen Realismus, als „nicht typisch“ bezeichnen. Nun, Anfang Februar, stellte das Internetportal Politically Incorrect ein etwa drei Minuten langes Handy-Video ins Netz, das einen etwa 15jährigen deutschen Jugendlichen zeigt, der stumm die physischen und psychischen Quälereien durch südländische Gleichaltrige erduldet. Ihm wird mehrmals ins Gesicht geschlagen, die Nase blutet. Die Transkription der begleitenden Reden gibt die Atmosphäre nur unvollkommen wieder, man muß sich dazu die stakkatohafte „Kanak-Sprak“ denken: „Guck mich an, sonst fängst du dir gleich noch eine von mir ein! – Hör ich noch einmal so was, dann fick ich dich und du landest im Krankenhaus! – Du bist Deutscher, du bist ein Nichts! – Du bist ein Hund, wenn ich sage, du bellst, dann bellst du ab jetzt!“ Tatsächlich verlangt er von dem Gequälten zu bellen, als das Video abbricht. Inzwischen hat Youtube es gelöscht.

Im Artikel „Junge Männer auf Feindfahrt“ vom Januar 2008 schrieb der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher: „Sie verrichten ihre Taten nämlich nicht mehr stumm. Sie reden dabei. (...) sie haben begonnen, einen Feind zu identifizieren. (...) Das sind ‘die Deutschen’. Es steht so nicht in den Lehrbüchern. Uns war historisch unbekannt, daß eine Mehrheit zum rassistischen Haßobjekt einer Minderheit werden kann.“

Historisch neu ist freilich auch, daß ein Staat sich und seine Bürger politisch, juristisch und moralisch entwaffnet und damit als Beute darbietet. Der Ich-Erzähler ahnt und reflektiert zunehmend, daß die Wehrlosigkeit der deutschen  Jugendlichen kein Zufall ist, sondern auf eine gesellschaftliche Krankheit, auf eine kollektive moralische Schwäche hinweist, die institutionell generiert wird. Das beginnt in der Schule, wo die deutsche Geschichte auf den Nationalsozialismus beschränkt und gelehrt wird, daß als einzige Konsequenz ein „Nie wieder!“ geboten sei. Die Absage gilt nicht nur der Diktatur und dem Nationalismus, sondern dem Patriotismus schlechthin, der mit Ausländerfeindlichkeit gleichgesetzt wird.

Die indoktrinierte Geisteshaltung bringt keine kraftvollen, selbstbewußten und selbstbestimmten Individuen hervor, sondern isolierte, von Autoaggression und Denunziationslust getriebene Wesen. Sie führt zur kollektiven Regression geistiger, körperlicher und sozialer Fähigkeiten und Funktionen, wozu auch das Erkennen und die Abwehr von Gefahren gehören. Die spürbar fehlende Selbstachtung provoziert die Verachtung der anderen, die in den Schwächlingen das leichte Opfer wittern.

Was für die einen die abstrakten „Lehren aus der deutschen Geschichte“ sind, heißt für die anderen konkrete Gewalterfahrung. Der Erzähler erlebt sie direkt und indirekt. Einmal wird er Zeuge, wie eine Gruppe ausländischer Jugendlicher einen jungen Deutschen zum Krüppel schlägt, wobei sein einstiger Freund Akin sich führend beteiligt. Die Deutschen, durch Indoktrination desorientiert, vollenden ihre Demütigung durch den Rückzug und die moralisierenden Ausflüchte, mit denen sie ihre Schwäche bemänteln. Beim Erzähler führt das zu einem immer größeren Leidensdruck, der sich nach innen entlädt und durch Schmerzattacken in der Bauchhöhle bemerkbar macht.

Er hält die Gesellschaft für todverfallen und unwert, sich um Anschluß an sie zu bemühen. Er wendet sich von allen und allem ab – von den Eltern, von Freunden, vom Studium – und modelliert sich zu einem Samurai-artigen, nietzscheanisch inspirierten Gegenentwurf.

Sechs Essays, die der Delinquent gut ein Jahr vor dem Mord verfaßt hat, setzen Zäsuren zwischen den Gesprächen mit dem Pfarrer. Sie drehen sich vor allem um das von Auslassungen und  selbstzerstörerischen Akzentsetzungen gekennzeichnete Geschichtsbild, das die Gesellschaftspolitik determiniert. Die Themen sind die juristisch und verfahrenstechnisch zweifelhaften Nürnberger Prozesse; die von unsäglichen Grausamkeiten und Massenverbrechen begleitete Vertreibung der Deutschen; die durch die Jahrhunderte expansiven Absichten des Islam; der auf Massentötung angelegte Bombenkrieg; der Wirtschaftsliberalismus und die angestrebte Neue Weltordnung; die bestrittene Alleinschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg.

Als literarisches Verfahren ist das reichlich grob und wird Außenstehende kaum überzeugen. Jan Fleischhauer schrieb kürzlich in einer Spiegel-Kolumne: „Ich leide nicht in vierter Generation an der Vertreibung. Meine Familie hatte kein Rittergut im Osten, das sie vor den anrückenden Russen räumen mußte. Ich bin auch nicht der Meinung, daß der Schuldkomplex die Deutschen so belastet, daß sie nur noch geduckt durch die Welt gehen.“ Die Sätze besagen freilich nur, daß dem Autor die moralische Selbstentwaffnung nicht bewußt ist – ganz im Unterschied zu den Zuwanderern.

Uwe Tellkamps Roman behandelte rechten Terror 

Der permanente Gefühlsstau hat die Magenschleimheit des Erzählers vernarben lassen und ein Pankreas-Karzinom ausgelöst. Der Krebs, der ihn besiegt und zerstört, so muß er das sehen, ist die Krankheit der Gesellschaft. Er entschließt sich, vor seinem Ende ein Zeichen zu setzen und seinen Stolz zu bekunden. Er beschreibt ausführlich und sachlich, wie er die benachbarte türkische Familie, deren ältester Sohn ihn mehrmals angepöbelt hat, bestialisch ermordet. 

Dieser zwei Jahre vor dem Massenmord des norwegischen Extremisten Anders Breivik vollendete Roman wagt etwas, das in Uwe Tellkamps – formal anspruchsvollerem – Roman „Der Eisvogel“ (JF 20/05) zuerst angekündigt wird, aber dann in der Unentschlossenheit versandet: die Darstellung eines rechten Terrors, den das Leiden an der durch Dauertherapie autoaggressiv gewordenen Gesellschaft generiert hat.

Der Roman enthält zahlreiche literarische und geistesgeschichtliche Anspielungen. Truman Capotes Klassiker „Kaltblütig“, der mit kalter Sachlichkeit die Ermordung einer Familie erzählt, stand ebenso Pate wie Bret Easton Ellis’ „American Psycho“, der Roman eines psychopathischen Mörders. Der Ich-Erzähler Patrick Bates – ein Nachfahr des Norman Bates aus Hitchcocks „Psycho“ – schlitzt einem Hund, der ihm zufällig auf dem Gehweg begegnet, mit einer gezackten Klinge den Bauch auf. Die Szene findet sich ähnlich in „Bauchschmerzen“ wieder, nur ist die Tatwaffe hier ein Tapetenmesser. „American Psycho“ ist der Roman über einen ungefähr gleichaltrigen, absurd reichen Wall-Street-Banker, dessen „American way of life“ völlig auf Statussymbole fixiert, veräußerlicht, versachlicht und leer ist. Die innere Leere erzeugt einen immer stärkeren Sog, der zu immer sadistischer ausgeführten Morden führt.

Was in „American Psycho“ die Leere ist, das sind in „Bauschschmerzen“ die Erbitterung, die Verzweiflung, der Zorn. Sollte es einem Autor gelingen, die hier angeschlagenen Themen aus der Grob- in eine literarische Feinstruktur zu transformieren, könnte eine Art „German“ oder „European Psycho“ und damit der relevante deutsche Gegenwartsroman gelingen.

Wolfgang Gottschalk: Bauchschmerzen. Roman. Pro Business GmbH, Berlin 2009, kartoniert, 208 Seiten, 9,90 Euro