© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Kleine Revolutionen
Die große Frage: Von der Straße auf die Schiene umsteigen, oder doch auf Elektroautos setzen?
Dieter Menke

Im Feierabendverkehr können sich die Schlangen auf den Autobahnen São Paulos durchaus über dreihundert  Kilometer erstrecken. Die Autobesitzer der brasilianischen Metropole dürften daher deutlich über dem Durchschnitt von 110 Lebensstunden liegen, die ein Mensch nach den Statistiken von Verkehrsdatenexperten im Stau verliert.

Für Peter Newman, Professor für Nachhaltigkeit an der australischen Curtin University, fügen sich solche statistischen Details zu einer Gesamtbilanz, die vom nahen „Ende der automobilen Herrschaft“ kündet. Das heutige Verkehrssystem, so zitiert ihn die BASF-Hauszeitschrift Creating Chemistry in ihrem Schwerpunktheft „Mobilität der Zukunft“ (JF 5/15), sei den Menschenmassen, die in die Großstädte drängen, einfach nicht mehr gewachsen.

Autoabstinenz in Deutschland steigt

Konventionelle Maßnahmen, mit denen bisher etwa Peking, Paris oder São Paulo auf die Feinstaubbelastung reagierten, indem abwechselnd nur Fahrzeuge mit gerader oder ungerader Endziffer auf den Nummernschildern in die Stadt durften, haben sich als wirkungslos erwiesen. Was sich auch noch an einer anderen alarmierenden Statistik ablesen läßt: Allein in den , Großbritannien, Frankreich und Deutschland kosten Staus die Wirtschaft derzeit 180 Milliarden Euro jährlich. Werde nicht umgesteuert, erhöhe sich die Summe bis 2030 auf 270 Milliarden.

Der Optimist Newman, ein ehemaliges Mitglied des Weltklimarats, meint jedoch, inzwischen fände weltweit ein Prozeß des Umsteuerns statt. Eins der Hoffnungszeichen kommt für ihn aus Deutschland. 

Laut Statistischem Bundesamt besaßen 2013 schon 30 Prozent der Haushalte deutscher Großstädte weder PKW noch Motorrad. Ein unverkennbarer Trend weg vom Auto, denn 2003 lag dieser Anteil noch bei 22 Prozent. Dies korrespondiert für Newman mit einer Entwicklung, die er als „kleine Revolution“ wahrnimmt: „In immer mehr westlichen Metropolen wollen immer weniger junge Menschen ein Auto besitzen.“ Die Absatzzahlen in dieser Zielgruppe sinken, obwohl das Wirtschaftswachstum steigt.

Ein Bewußtseins- und Einstellungswandel, der Newmans Hoffnung beflügelt, das vielbeschworene Zwei-Grad-Ziel des Weltklimarats könne bis 2100 erreichbar sein. Ausgerechnet China und die USA, die beiden größten Treibhausgas-Emittenten, würden inzwischen eine Vorreiterrolle auf dem Weg zur Mobilität von morgen übernehmen. 

In den USA, die über das schlechteste öffentliche Nahverkehrssystem der industrialisierten Welt verfügen, wagen immer mehr Städte den Umstieg von der Straße zur Schiene. So wurde in Portland (Oregon) seit 1985 keine Autobahn mehr gebaut. Statt dessen floß das Geld in eine „Renaissance der Straßenbahn“.

Das Beispiel Portlands macht inzwischen Schule. Bei 30 Projekten, verteilt über das ganze Land, verlegt man seit 2013 dort Gleise, wo man sie in den 1950er bis 1960er nicht rasch genug entfernen konnte. Ähnliches vollzieht sich in Chinas Megastädten. So verfuhr Shanghai in den neunziger Jahren streng nach US-Modell, baute Highways und animierte zum Umstieg vom Fahrrad aufs Auto, was bei 24 Millionen Einwohnern zum erwartbaren Verkehrskollaps führte. Zur radikalen Kehrtwende gezwungen, stampfte die Stadt dann von 2002 bis 2012 das mit 500 Kilometern längste U-Bahnnetz der Welt aus dem Boden, das jeden Tag acht Millionen Menschen befördert.

Dieser verkehrspolitische Befreiungsschlag fand Nachahmer in Lateinamerika, wo allerdings nicht U-Bahnen, sondern Gondeln die Menschenströme kanalisieren. In Boliviens Hochlandmetropole La Paz entsteht derzeit mit neun Linien auf dreißig Kilometern das umfangreichste urbane Seilbahnnetz weltweit, das nach seiner Fertigstellung ein knappes Fünftel des Nahverkehrs übernehmen soll (JF 45/12).

Die Akkus müssen leichter und leistungsfähiger werden

Europa wiederum setzt auf Elektrobusse, E-Autos und Carsharing, um die Umwelt zu schonen, Ressourcen und Transportkosten zu sparen sowie die Innenstädte wieder „menschengerechter“ aussehen zu lassen. Doch ungeachtet aller regierungsamtlichen Werbekampagnen für die saubere E-Mobilität ist hier bislang nur ein Nischenmarkt entstanden. Was sich mittelfristig nach Erhebungen einer Shell-Studie nicht ändern werde, so daß Autos mit Verbrennungsmotoren die Straßen bis 2040 dominieren.

Daß die Elektroflitzer den Sprung auf den Massenmarkt noch nicht geschafft haben, liegt neben ihrer begrenzten Reichweite und der dürftigen Infrastruktur der Ladestationen vor allem am Preis. E-Mobile sind mindestens 30 Prozent teurer als vergleichbare Benziner. Für Axel Thielmann vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung hilft da nur Geduld.

 Der „nächste große Durchbruch“ der Forschung werde die Krux der heutigen Batterietechnik beheben, wonach geringes Gewicht und günstiger Preis mit begrenzter Akkukapazität, hohe Reichweite und große Batteriekapazität indes mit einem höheren Preis bezahlt werden müssen.

Nach einer Fraunhofer-Umfrage knüpfen sich jedoch berechtigte Hoffnungen an ein Gemisch aus Kobalt, Nickel und Mangan (Hochenergie-NCM), für das BASF die Lizenz hält. Das Kathodenmaterial soll Lithium-Ionen-Akkus der dritten Generation endlich auf ein neues Leistungsniveau heben und E-Autos erschwinglicher machen. Aber nicht nur der Akku muß leichter und leistungsfähiger werden, auch die Fahrzeuge sollen abspecken. Darum verbaut BMW jetzt in seine „kompakten Stadtflitzer“ i3 statt Metall Karbonfasern in der Fahrgastzelle.

Vom verkehrstechnischen Optimum ist man für den Informatiker Raúl Rojas mit solchen Novitäten trotzdem noch weit entfernt. Das will der Spezialist für künstliche Intelligenz an der Freien Universität Berlin in autonomen, fahrerlosen Autos erkennen, von deren Einsatz er sich die Rückkehr ins 19. Jahrhundert verspricht, als die Straßen noch frei waren. 

Tatsächlich nimmt die Vision des autonomen Autos für die Ingenieure der Volkswagen-Konzernforschung reale Konturen an. Anfang 2015 legte ein Audi A7 mit Autopilot 900 Kilometer von Silicon Valley bis Las Vegas unfallfrei zurück. Bis 2020 will VW diese Technik aus dem Testwagen in einem Serien-Audi anbieten. 

Gerade für den Stadtverkehr mit seinen spontanen, unberechenbaren Bewegungen taugt das Gefährt jedoch nicht. Noch nicht, denn bis 2035 glaubt VW-Forschungschef Jürgen Leohold das vollautomatische Fahren auch in der Innenstadt versprechen zu können.