© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Die Fronten sind fließend
Syrien: Assads Vorgehen drängt die zersplitterte Opposition in die Defensive
Marc Zoellner

Am Grenzübergang von Öncüpinar drängeln sich die Menschen. Sie bitten um Aufnahme, um medizinische Versorgung, um ein Dach über dem Kopf. Wie viele es sind, darüber haben die türkischen Behörden schon längst den Überblick verloren. War vergangenen Freitag noch von rund 35.000 Syrern die Rede, ließ die nichtstaatliche türkische Hilfsorganisation IHH (Stiftung für Menschenrechte, Freiheiten und Humanitäre Hilfe, zwei Tage später die Kunde von über 50.000 Flüchtlingen verlauten. Am selben Abend sprachen Offizielle bereits von 70.000 Menschen. Und der Strom der Flüchtlinge riß auch zu Wochenbeginn nicht ab.

Öncüpinar befindet sich in einer prekären Lage. Hier ließ die türkische Regierung eines der ersten dauerhaften Flüchtlingscamps errichten; nicht mehr nur aus Zelten, sondern als feste Containerstadt gebaut. Zehn- bis fünfzehntausend Flüchtlinge sollten in dieser Siedlung Unterkunft finden, als während der Intensivierung des syrischen Bürgerkriegs im Sommer 2012 die Zweimillionenmetropole Aleppo, eine der Hochburgen der Opposition gegen Baschar al-Assad, zum ersten Mal vom Militär großflächig bombardiert worden war. 

Damals geriet Aleppo zum Symbol des erfolgreichen Widerstands gegen die syrische Regierung, wurde in der Folge sogar zum Sitz des politischen Arms der moderaten Kräfte gegen al-Assad erkoren und neben dem kleineren, im März 2015 eroberten Idlib selbst als deren inoffizielle neue Hauptstadt im Falle einer Spaltung des Landes gehandelt.

Wechselnde Allianzen bei den Assad-Gegnern

Doch das Blatt hat sich in den  vergangenen Tagen rapide gewendet. Erneut sieht Aleppo sich der Bombardierung seiner inneren Stadtbezirke ausgesetzt. Diesmal nicht von loyalen syrischen Truppen, sondern von Kampffliegern der russischen Alliierten Baschar al-Assads. Gleichzeitig, berichten Beobachter, rücken rund 2.000 Milizionäre der schiitischen Hisbollah, aus dem Iran sowie aus Afghanistan von drei Seiten auf die Stadt vor. Der errichtete Belagerungsring scheint kaum noch überwindbar. Und der militärischen Niederlage in Aleppo folgte im gleichen Atemzug jene diplomatische im schweizerischen Genf.

Am Ufer des Genfer Sees sollten in den kommenden sechs Monaten eigentlich die Rahmenbedingungen für einen künftigen Frieden in Syrien abgesteckt werden. Die erste angesetzte Verhandlungsrunde Anfang Februar widmete sich den schwierigen Feldern eines Gefangenenaustauschs sowie der Beendigung mehrerer Blockaden, insbesondere jener von Aleppo. 

Doch kurz nach den ersten Zusammenkünften verließ die 34köpfige Schar der Unterhändler des Hohen Verhandlungsrats (HNC), einem von Saudi-Arabien eigens für diese Konferenz geschmiedeten Sprachrohr der nennenswerten Oppositionsbewegungen Syriens, den Hotelsaal. „Wir kamen nach Genf, um die Veranstaltung zum Erfolg werden zu lassen“, twitterte der HNC später ernüchtert. „Doch Assad wollte keinen solchen Erfolg erzielen. Die Belagerungen müssen aufgehoben, die Luftangriffe eingestellt werden.“

Mit dem Rückzug ihrer Delegation steht auch die moderate syrische Opposition wieder am Anfangspunkt ihrer politischen Bemühungen. Bereits im Vorfeld fiel es den Organisatoren sichtlich schwer, überhaupt geeignete Vertreter als Gegengewicht zu den ebenfalls in Genf anwesenden Loyalisten auszuwählen. Zu unübersichtlich zeigt sich mittlerweile die Lage im vom Bürgerkrieg verwüsteten Land. Die Fronten zwischen Moderaten und Islamisten sind fließend; ebenso ihre wechselnden Allianzen.

„Man darf nicht vergessen, daß wir aus sehr unterschiedlichen Gruppen bestehen“, kostatierte Khaled Khoja, Präsident der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, der von mittlerweile rund 100 Staaten anerkannten Gegenregierung zu Baschar al-Assad, im vergangenen Jahr im Spiegel-Interview. „Wir sind ein Bündnis aus Leuten der Muslimbrüderschaft, Liberalen, Kommunisten, Kurden, arabischen Stämmen, Assyrern.“

Khojas Organisation ist eine der federführenden Kräfte in den Genfer Verhandlungen. Doch innerhalb Syriens wird die Syrische Nationalkoalition mit regem Mißtrauen beäugt. Die Islamisten des Ahrar al-Sham sowie des Dschaisch al-Islam verdächtigen die im türkischen Istanbul ansässige Vereinigung als konspirativ geleitet.

Das Verhältnis zur kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) gilt aufgrund von Streitigkeiten über die zukünftigen Strukturen Syriens als angespannt. Auch die Freie Syrische Armee (FSA), die sich mittlerweile aus über 110 teilweise autonom agierenden Brigaden zusammensetzt, lockerte in den vergangenen Jahren mehrmals ihr Bündnis mit der Interimsregierung. Und mit der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger der Terrorgruppe al-Qaida, unterhält Khojas Kabinett überhaupt keine Beziehungen. Offiziell zumindest. 

Bis auf Al-Nusra, deren Anhänger sich so wie beim derzeitigen Entsatz Aleppos teilweise mit den Brigaden der FSA koordinieren, andere Truppenteile der FSA jedoch aufs schärfste bekämpfen, sollten sämtliche dieser Gruppierungen auch an den Genfer Verhandlungen teilnehmen.

Damaskus versucht lediglich, Zeit zu erkaufen 

Ob und wann die Friedensgespräche zwischen den Bürgerkriegsparteien wieder aufgenommen werden, ist fraglich. „Dem Regime ist es nicht ernst mit den Gesprächen um humanitäre Unterstützung“, verkündete der HNC kürzlich. „Assad versucht lediglich, Zeit zu erkaufen.“

Tatsächlich scheint es, als könne Baschar al-Assad auf den größten Sieg seiner Streitkräfte seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor fast sechs Jahren hoffen: Immerhin setzt Rußland zur Unterstützung des Sturms der Damaszener Schiiten-Milizen auf Aleppo nicht nur auf intensive Luftangriffe. 

Auch ein halbes Dutzend seiner hochmodernen T-90-Panzer ließ Moskau mittlerweile aus der Küstenstadt Latakia in die nordwestliche Provinz anrollen, berichtet das Washingtoner Institute for the Study of War (ISW), um die Schnellstraßen rund um die belagerte Stadt einzunehmen und die Rebellen somit komplett von deren Nachschub abzuschneiden. Deren Verhandlungsgewicht in Genf wäre damit obsolet.