© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Die Macht der Zahlen
Asylkrise I: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zieht Bilanz und baut um
Marcus Schmidt

Frank-Jürgen Weise ist derzeit einer der einflußreichsten Deutschen. Sein Wort könnte die Kanzlerin stützen. Denn der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist der Herr der Zahlen. Jeden Monat veröffentlicht die Behörde ausführliche Statistiken zu den nach Deutschland gekommenen Asylbewerbern. Deren Zahl, so hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Wochen angesichts des Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung mehrfach versichert, solle in diesem Jahr spürbar reduziert werden. Sie wird sich an den Statistiken des BAMF messen lassen müssen.

Doch bis es soweit ist, muß Behördenchef Weise dafür Sorgen, daß seine Zahlen auch tatsächlich die Wirklichkeit an der deutschen Asylfront abbilden. Die dafür notwendige Auf- und Umrüstung des BAMF gleicht dabei einer Operation am offenen Herzen. Ausgang ungewiß. In der vergangenen Woche zog Weise, der das Amt nach dem Rücktritt von Behördenleiter Manfred Schmidt Mitte September zusätzlich zu seinem Posten als Chef der Bundesagentur für Arbeit übernommen hatte, eine erste Bilanz. Die präsentierten Zahlen machten deutlich, daß die Behörde noch weit davon entfernt ist, mit den explosionsartig gestiegenen Asylbewerberzahlen Schritt zu halten. 

So hat das BAMF im vergangenen Jahr zwar über 280.000 Asylanträge entschieden. Gleichzeitig sitzt die Behörde aber weiterhin auf einem Berg von 370.000 unbearbeiteten Anträgen. „Diese Situation ist nicht akzeptabel“, sagte Weise mit Blick auf die unbearbeiteten Fälle. Zum einen sei es für die betroffenen Menschen persönlich schlimm, so lange warten zu müssen. Aber auch für die Integrationsperspektive auf dem Arbeitsmarkt sei eine lange Wartezeit nachteilig. Hinzu kommen nach Angaben von Weise 300.000 bis 400.000 weitere Flüchtlinge, von denen das BAMF vermute, daß sie da sind, aber noch keinen Antrag gestellt haben. Daraus ergeben sich 670.000 bis 770.000 Ausländer, bei denen die Entscheidung  darüber, ob sie in Deutschland Asyl erhalten oder nicht, noch aussteht. Wie viele von den potentiellen Asylbewerbern, die bislang keinen Antrag gestellt haben, bereits in andere Länder weitergereist sind oder aber mehrfach erfaßt wurden, kann derzeit niemand mit Gewißheit sagen.  

Doch Weise treibt noch ein ganz anderes Problem um: „Dieses Jahr kommen noch mehr Menschen dazu.“ Um zu verhindern, daß seine Behörde angesichts der weiterhin hohen Flüchtlingszahlen im Laufe des Jahres in unerledigten Anträgen ertrinkt, müssen die Abläufe weiter beschleunigt werden.

Mehr als 550.000 dürfen nicht kommen

Weise kann bereits Erfolge vorweisen: Während in den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres durchschnittlich 57.000 Entscheidungen gefällt wurden, bearbeiteten seine Mitarbeiter im vierten Quartal bereits 110.000 Anträge. Möglich ist diese Entwicklung durch die personelle Aufrüstung der Behörde. Verfügte diese Anfang 2015 gerade einmal über 300 Entscheider, waren es im Dezember bereits 1.000. Bis Ende März soll die Zahl auf 1.700 erhöht werden.

Doch nicht allein mit zusätzlichem Personal versucht die Behörde der Antragsflut Herr zu werden. Ein integriertes Flüchtlingsmanagement soll künftig garantieren, daß alle nach Deutschland kommenden Asylbewerber sofort erfaßt und ihre Anträge schnell bearbeitet werden. Hierfür richtet das BAMF derzeit bis zu 20 sogenannte Ankunftszentren ein. Diese sind künftig der zentrale Zugang zum Asylverfahren in Deutschland und allen damit verbundenen Leistungen. Die in diesen Einrichtungen erfaßten Daten der Flüchtlinge sollen in ein „zentrales Kerndatensystem“ eingegeben werden, auf die auch andere Behörden Zugriff haben. Gleichzeitig erfolgt eine erkennungsdienstliche Erfassung der Asylbewerber. Am Ende dieses Aufnahmeprozesses steht künftig eine „Ankunftskarte“. Dieses Dokument, mit dem jeder Asylbewerber ausgestattet sein soll, bezeichnete Weise als „Durchbruch“. „Jeder, der nach Deutschland kommt, wird individuell erfaßt“, kündigte er an. „So wissen wir immer, wer kommt und wo er ist.“ Das heißt im Umkehrschluß aber auch: Bislang ist das nicht der Fall. 

Auch das Asylverfahren soll künftig in den Ankunftszentren abgewickelt werden. Im günstigsten Fall, also bei Antragstellern aus unsicheren oder sicheren Herkunftsländern, soll über den Antrag innerhalb von 48 Stunden entschieden werden. Dann erfolgt die Verteilung auf die Kommunen oder die Abschiebung. Zumindest nach den Plänen der Behörde.

Doch trotz der Neuerungen ließ Weise keinen Zweifel daran, daß seiner Behörde auch künftig Kapazitätsgrenzen gesetzt sind. Für 2016 geht er davon aus, daß seine Mitarbeiter 1,1 Millionen bis 1,2 Millionen Anträge bearbeiten können. Enthalten sind darin die 670.000 bis 770.000 Altfälle. Daraus ergibt sich eine Kapazität, man könnte auch Obergrenze sagen, von 550.000 Asylbewerbern in diesem Jahr. „Kommen mehr, brauchen wir mehr Personal, oder es gibt wieder einen Rückstau“, warnte Weise und ließ durchblicken, daß die aktuellen Planungen nur eine Zwischenstation sein könnten für einen weiteren Ausbau der Behörde. „Die Prognose für 2016 fällt allen sehr schwer“, gestand er mit Blick auf die Flüchtlingszahlen.

Foto: Ein Bundespolizist registriert in Rosenheim einen Asylbewerber: Entscheidung innerhalb von 48 Stunden