© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Luther macht den Unterschied
Deutsche und Franzosen: Der elsässische Schriftsteller Martin Graff analysiert die Prägungen des Reformators diesseits und jenseits des Rheins
Katharina Puhst

Comme en Allemagne“ – „wie in Deutschland“ lautet die Parole, die im französischen Fernsehen wie ein dauerhafter Werbespot zu hören ist. Sie gab dem freien Autor, Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Martin Graff Anlaß dazu, nach dem Grund für die unterschiedliche Entwicklung von Frankreich und Deutschland zu suchen. In seinem Essay „Der lutherische Urknall – Die Franzosen und die Deutschen“ macht er Luther dafür verantwortlich. 

Da Luther es den Menschen ermöglichte, das Wort Gottes zu lesen, konnte die Bibel verschieden interpretiert werden. Es fanden Gedankenspiele statt. Der „Vater der Freiheit“ sprengte so die Macht der katholischen Kirche und setzte die „deutschen Moleküle“ frei, eine Energie, die der Demokratie die Tür öffnete. Schließlich kann Innovation nur dort entstehen, wo Dynamik vorliegt, und diese entspringt vornehmlich aus dem Mitbestimmungsrecht eines jeden einzelnen. Darauf führt Graff den deutschen Föderalismus sowie den starken Mittelstand zurück, welche dem Land Stabilität verleihen.

Frankreich funktioniert nach dem Prinzip des Vatikans

Doch wie verhält es sich mit den Franzosen? Graff zufolge haben sie den lutherischen Urknall verpaßt. Eines der ersten Indizien hierfür sei die Religionsfreiheit, die in Deutschland im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555 festgehalten wurde. In Frankreich hingegen kam sie erst 1598 zur Geltung und wurde bereits kein Jahrhundert später wieder abgeschafft. Das katholisch-monarchische Frankreich habe das Konzept des Vatikans beibehalten: Als Zentralstaat mit einer „allmächtigen“ Person an der Spitze, derzeit ausgerechnet vom als zaghaft geltenden Präsident François Hollande verkörpert. Er entscheidet über Krieg und Frieden, weil er allein über die französische Armee und den Geheimcode für die Aktivierung der Atomwaffen verfügt. 

Immer wieder greift der studierte evangelische Theologe, Romanist und Philosoph auf seine Heimat, das Elsaß, zurück, das aufgrund seiner Geschichte nach wie vor eine Sonderstellung einnimmt. Deutlich zeichnen sich heute noch die deutschen Einflüsse ab. Genannt werden die deutschen Arbeitsgesetze, wie es sie bereits im 19. Jahrhundert gab, als das Elsaß Einflüssen aus Württemberg ausgesetzt war. In jener Zeit sei es dem Elsaß besser ergangen als dem Rest Frankreichs. Auffallend seien auch die protestantischen Unternehmen wie Peugeot, De Dietrich, Hartmann und Schlumberger, die sich in eben dieser Region einen Namen verschafften. Heute seien die protestantischen Allüren zurückgegangen und das Elsaß weitgehend frankophon, sprich katholisch. 

In ganz Frankreich sind sogar nur zwei Prozent der Bevölkerung aktuell noch protestantisch, eine Glaubensrichtung, die ohnehin lange Zeit als Sekte betrachtet wurde. Fast möchte man meinen, wo der Protestantismus fehlt, stockt nicht nur die Entwicklung. Gleichzeitig verweist der Autor, fünfmaliger Preisträger des deutsch-französischen Journalistenpreises, auf bedeutende Deutsche wie Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche und Hermann Hesse oder gar Elke Heidenreich und Angela Merkel. Sie waren und sind allesamt Pfarrerssöhne und -töchter, die unsere Geschichte und Kultur entscheidend geprägt haben.

Graff beschreibt, wie sich die Franzosen heutzutage den Kopf darüber zerbrechen, wie sie die Deutschen in puncto Wirtschaftskraft und Lebensqualität einholen können. Genausowenig entgeht ihm ihre Erstarrung, was er auf ihre Selbstüberzeugung zurückführt, die es ihnen unmöglich mache, Ratschläge von außen anzunehmen. Hinzu kämen Argwohn und Neid, welche die Franzosen zwischen Bewunderung und Mißgunst schaukeln ließen und sie somit der Offenheit verschlössen.

Auf interessante und unverblümte Weise stellt der Autor seine Reflexion über das französische Volk an, indem er unzählige historische Ereignisse nennt, welche nicht nur auf die politische Spaltung innerhalb der Grande Nation bis in das Alltägliche hinweisen. Brisant, aber mit viel Humor vergleicht Graff facettenreich Medien, Bildung, Sprache, Wirtschaft, Politik und Mentalität der alten „Erzfeinde“. Der Essay vermittelt tiefe Eindrücke in nationale Verhaltensmuster und vermag sich der Antwort nach dem Unterschied von Franzosen und Deutschen zu nähern.

Martin Graff: Der lutherische Urknall. Die Franzosen und die Deutschen. Morstadt Verlag, Kehl 2015, gebunden, 222 Seiten, 24,80 Euro