© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Als die Intelligenzija zur Opposition wurde
Ende des Tauwetters: Der Moskauer Schriftstellerprozeß 1966 bedeutete einen Paradigmenwechsel
Wolfgang Kaufmann

Zwischen 1959 und 1965 gelang es zwei sowjetischen Schriftstellern, die sich Abram Terz und Nikolai Arshak nannten, eine ganze Reihe von satirisch-kritischen Erzählungen und Essays aus der UdSSR heraus in den Westen zu schmuggeln und dort zu veröffentlichen. Den Anfang machte hierbei Terz’ Aufsatz „Was ist sozialistischer Realismus?“, der in der französischen Zeitschrift Esprit erschien. Darin hieß es, daß die zeitgenössische russische Literatur an gerade diesem von oben verordneten Realismus kranke, weshalb eine Rückkehr zum etwas mehr Phantastischen in der Tradition von Gogol nötig sei.

Natürlich waren die Namen der Autoren nur Pseudonyme, wie der Geheimdienst KGB schnell herausfand. Und im September 1965 wußte er dann auch, wer sich hinter „Terz“ und „Arshak“ verbarg, nämlich der renommierte Literaturhistoriker und bekannte Kritiker Andrej Sinjawski und der freischaffende jüdischstämmige Übersetzer, Autor und Weltkriegsveteran Juli Daniel. Daraufhin wurden die beiden verhaftet und wegen Verstoßes gegen den berüchtigten Paragraphen 70 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (Antisowjetische Agitation und Propaganda) angeklagt.

Entstehung der sowjetischen Dissidentenbewegung

Der Prozeß begann am 10. Februar 1966 in Moskau unter dem Vorsitz von keinem Geringeren als dem Präsidenten des Obersten Gerichts der RSFSR, Lew Smirnow. Dabei geschah gleich zu Beginn etwas Unerhörtes: Zum ersten Male seit vielen Jahrzehnten wagten es zwei Delinquenten, trotzig auf „nicht schuldig“ zu plädieren und somit die angebliche Unfehlbarkeit des sowjetischen Justizapparates in Frage zu stellen. In dieser Haltung ließen sich Sinjawski und Daniel nicht einmal dadurch beirren, daß einige willfährige Ex-Kollegen im Vorfeld der Verhandlung massiv Stimmung gegen sie gemacht hatten – allen voran der orthodox-leninistische und scharfmacherische Dmitri Jerjomin vom Maxim-Gorki-Institut, der sogar von „Hochverrat“, also einem todeswürdigen Verbrechen, sprach. Ebenso ergriff der frischgebackene, international angesehene Literaturnobelpreisträger Michail Scholochow das Wort, indem er gegen die „ausländischen Fürsprecher“ der angeklagten „Dichterlinge“ polemisierte.

Und tatsächlich reagierte der Westen überaus bestürzt auf das Verfahren, welches das nunmehr definitive Ende der Periode des „Tauwetters“ im Anschluß an den Tod von Diktator Stalin anzeigte. Davon blieb nicht einmal die Linke ausgenommen. So meinte der Generalsekretär der Britischen Kommunistischen Partei, John Gollan, der dann später übrigens auch die Niederschlagung des Prager Frühlings kritisierte: „Die Art, wie diese Affäre gehandhabt wurde, hat der Sowjetunion größeren Schaden zugefügt als die Werke Sinjawskis und Daniels.“

Doch die Kremlführung sah Anfang 1966 keine andere Lösung, als die beiden Schriftsteller vor Gericht zu zerren: Nach Jahren der vorsichtigen Öffnung während der Regierungszeit von Nikita Chruschtschow machte sich in der neuen Führung der KPdSU unter dem wenig experimentierfreudigen Leonid Breschnew eine zunehmende Angst breit, die aus der ungewohnten Atmosphäre intellektueller Freiheit sowie der „Verbrüderung“ mancher Sowjetkünstler mit dem Westen resultierte – deshalb mußte dringend ein Exempel statuiert werden. 

Denn nichts anderes war das Urteil, welches dann am 14. Februar nach nur vier Verhandlungstagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit fiel: Sinjawski wurde für sieben Jahre ins Arbeitslager geschickt und Daniel für fünf. Darüber hinaus sorgte der KGB im Falle des ersteren für besonders belastende Haftbedingungen, um zu erreichen, daß er im Gulag zugrunde ging. Trotzdem aber überlebten beide: Sinjawski durfte dann sogar 1973 mit seiner Familie nach Frankreich ausreisen, während Daniel sich später in Kaluga bei Moskau niederlassen mußte.

Anbiedernde Reaktionen staatstreuer Literaten

Die demonstrative Maßregelung der beiden Schriftsteller war ein Schlüsselerlebnis für viele Angehörige der sowjetischen Intelligenzija und die Initialzündung zur Entstehung einer permanenten Dissidentenbewegung in der UdSSR, welche letztendlich mit zum Totengräber des Sowjetsystems wurde. Daran änderten auch weitere anbiedernde Reaktionen staatstreuer Literaten und anderer Handlanger der Macht nichts. Eine davon kam vom Moskauer Schriftstellerverband: Obzwar dort selbst nach dem Prozeß niemand wirklich genau wußte, wie der Inhalt der Schriften der Verurteilten denn nun im Detail aussah, wurde Sinjawski als „Heuchler und Verleumder, der seine Feder in den Dienst antisowjetischer Kreise gestellt“ und „ideell-schädliche Werke“ publiziert habe, aus der Organisation ausgeschlossen.