© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Zur historischen Existenz der Deutschen angesichts der Krise
„Sieh dich wohl vor“
Peter Börner

Das heutige Deutschland steht vor drängenden Fragen. Letztlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das Fortbestehen einer Nation. Die Streitfrage, die beim 200. Jubiläum der Befreiungskriege 2013 aufkam, ist keineswegs akademisch: Gibt es ein deutsches Nationalgefühl wirklich erst seit dem Kampf gegen Napoleon? Genauer: Seit wann sind sich die Bewohner Mitteleuropas bewußt, Deutsche zu sein, und kann das Wissen darüber zur Bewältigung der aktuellen Krise beitragen?

Die Gegenwartsrelevanz erhellt aus zwei Bemerkungen Reinhard Müllers in der FAZ: „[E]s ist kein Zufall, daß anders geprägte Einwanderer sich oft darüber wundern, daß insbesondere Deutsche von ihren eigenen Wurzeln nichts wissen wollen. Wofür wirbt eigentlich die neue Willkommenskultur?“ (29. September 2015) Erste Antworten könnten sein: Das wundert nicht nur Ausländer. Und viele Deutsche wissen einfach nichts darüber oder höchstens Halbwahrheiten. Nun läßt sich die komplexe und komplexbeladene Frage nach dem historisch gewachsenen Identitätsbewußtsein der Deutschen nicht in einem Zeitungsartikel fundiert darstellen. Aber das Aufzeigen von Grundlinien ist möglich.

Zeitlich vor Deutschland und der deutschen Nation stand das Frankenreich Karls des Großen. Karl war Franke, nicht Deutscher, aber er schuf wichtige Voraussetzungen zur Entstehung der Deutschen, indem er kulturelle Gemeinsamkeiten unter den germanischen Stämmen im Ostteil seines Reiches in den Blick nahm, festigte und stärkte. Dieser östliche Teil sollte nach dem kriegerischen Anschluß des Sachsenlandes einmal in etwa das Gebiet der alten Bundesrepublik umfassen.

Kaiser Karl förderte bewußt das germanische Erbe (zum Beispiel durch germanische Monatsnamen oder die Sammlung germanischer Heldenlieder); und er förderte die Verwurzelung der Bevölkerung im Christentum. Ziel war die christliche Religion aller Untertanen. Gemäß dem Kapitular von 802 und dem Synodenbeschluß von 813 sollte jedermann das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis auswendig können, in der eigenen Sprache. Priester sollten in der Volkssprache predigen, im germanischen Teil in der lingua theodisca. Das lateinische Wort theodiscus, abgeleitet von germanisch thiod, „Volk“, ist sprachgeschichtlich die Vorform von „deutsch“.

Eine weitere Etappe auf dem Weg zur Volkwerdung war 150 Jahre später ein gemeinsamer Abwehrkampf. Auf dem Lechfeld bei Augsburg vernichteten 955 unter König Otto I. Kontingente der Baiern, Sachsen, Schwaben, Franken und Böhmen, das heißt aller Großstämme des späteren Heiligen Römischen Reiches, die ungarischen Invasoren. Typisch dazu die Anmerkung moderner Historiker: „Die Ottonen Heinrich I. und Otto I. gelten heute nicht mehr als Gestalten, die Deutschlands frühe Macht und Größe symbolisieren, sondern eher als ferne Repräsentanten einer archaischen Gesellschaft.“ (Wikipedia zu Kaiser Heinrich I.)

Freilich ist schon 35 Jahre vor der Schlacht auf dem Lechfeld zum Verdruß solcher Historiker der Begriff regnum teutonicorum („Reich der Deutschen“) bezeugt. Hundert Jahre später begegnet – gleichfalls in lateinischen Urkunden, zunächst päpstlicher Kanzleien, die damit die Zuständigkeit der Kaiser ausschließlich für Deutschland betonen wollen – der Begriff regnum teutonicum („Deutsches Reich“). Er findet wieder hundert Jahre später (um 1150) in der Kaiserchronik ein mittelhochdeutsches Äquivalent in Dûtiscez rîche. Wir können festhalten: Den Begriff „Deutsches Reich“ gibt es in deutscher Sprache seit über 850 Jahren.

Schon im Spätmittelalter wurde das fehlende nationale Selbstbewußtsein aufmerksam registriert, die notorische politische Uneinigkeit der Deutschen, gepaart mit unkritischer Nachahmung alles Ausländischen in Kultur und Sprache.

Doch wie sah es in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung aus? Selbstverständlich unterschiedlich. Man wird von einem damaligen Köhler im Schwarzwald oder einem taz-Journalisten heute nicht den gleichen Bewußtseinsstand erwarten können wie etwa vom akademisch gebildeten und politisch engagierten Verfasser des Siegburger Annoliedes. Der schildert um 1080 in einem Epos zu Ehren des Hl. Anno eine Großtat der „Deutschen“ (Er nennt sie „diutschiu liute“ in „diutischemi lande“): Sie retteten Cäsar mittels kriegerischer Intervention in Rom seine Herrschaft und ermöglichten damit die Entstehung des Römischen Kaiserreiches! Historisch frei erfunden, bezeugt diese Erzählung das Aufkommen und die Propagierung eines „deutschen“ Nationalbewußtseins in frühmittelhochdeutscher Sprache. Durch die Rezeption in der Regensburger Kaiserchronik fanden solche Gedanken in weiten Kreisen der mittelalterlichen deutschen Leserschaft Widerhall.

Besonders aufschlußreich sind Zeugnisse aus dem Ausland. Daß die Deutschen dort sehr früh als eigene Nation wahrgenommen wurden, zeigen beispielsweise nationalistische Querelen unter Kreuzrittern im Heiligen Land, die Gottfried von Bouillon (†1100) nur mit Mühe schlichten konnte. Sehr bemerkenswert ein damals noch mißlungener Plan der Ausweisung aller Deutschen. In der Böhmischen Chronik (1125) lesen wir: „Er befahl, alle aus deutschem Stamm (de gente teutonica), seien sie reich, arm oder Fremde, binnen drei Tagen aus Böhmen zu vertreiben“ (MGH II 14, Z. 19-21).

Dagegen erzielten hundert Jahre später die Verse des provenzalischen Troubadours Peire de Vidal (1175–1205) nachhaltige Wirkung: „Meiner Meinung nach sind die Deutschen ungebildet und grob; wenn einer von ihnen daherkommt und sich einbildet, er sei höfisch, fühlt man sich zu Tode bestraft. Ihre Sprache klingt wie Hundegebell.“ Das rief Walther von der Vogelweide auf den Plan, der trotzig behauptete: „Tiusche man sint wol gezogen / rehte als engel sint diu wîp getân. […] Tugent und reine minne, swer die suochen will /der sol komen in unser lant / da ist wunne vil: / lange müeze ich leben dar inne!“ Seit der Romantik hatten Millionen Schüler diese Verse in der Schule auswendig gelernt.

Fast vergessen ist die lebhafte Konjunktur des „Deutsch-Bewußtseins“ bei deutschen Humanisten. Damals kam nicht nur der Begriff „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ auf (ab 1473), sondern es wurden, angeregt durch die wiederentdeckte „Germania“ des Tacitus und altdeutscher Schriften, zahlreiche selbstbewußte, freudige Aussagen über Deutschland und die Deutschen formuliert, zum Beispiel in Schedels Weltchronik (Nürnberg 1493). Besonders stolz war man, daß die große zivilisatorische Leistung der Erfindung der Buchdruckerkunst einem Deutschen zu verdanken ist.

Freilich mischen sich – damals zum erstenmal? – auch besorgte Stimmen in den Chor. Hauptkritikpunkte: die notorische politische Uneinigkeit der Deutschen, gepaart mit unkritischer Nachahmung alles Ausländischen in Kultur und Sprache, kurz: fehlendes nationales Selbstbewußtsein. Der Elsässer Sebastian Brant mahnte 1519 nach dem Tod Kaiser Maximilians I.: „Sich fur dich Wohl [Sieh dich wohl vor] / O Heyliges Reych / Das dir der Adler nit entweich / […] Dan Würdt es ubel umb uns stahn / Und alls Teütschlandt zu scheytern gahn.“

Und ohne die altertümliche Sprache fühlte man sich bei der Deutschen-Schelte des bayerischen Pazifisten Sebastian Franck geradezu an moderne „rechte“ Kulturkritik erinnert. Er schreibt: Die Deutschen haben „aller ding ehe acht […] dann ihres eygen dings […] Aus dissem ist geflossen / dass die Teutschen ehe von Indianern wissen zu sagen / dann von Teutschen. […] Dann [denn] Teutsche seind von art ein volck / das nicht von seim ding helt / nur fremd ding gut ding. […] Künst / spraach / weißheit /weise red und that / lassen sie gern demütig anderen. […] ein volck das äffisch alles allen lendern will nachthon und reden.“ (Germaniae Chronicon, 1538 zitiert nach „Nation und Sprache“, herausgegeben von Andreas Gardt, 2000)

„Der Teutsche hängt sich nicht so sehr an seinem Vaterlande, und das zeugt von einem gewissen aufgeklärten Volke. Besonders zeichnen sie sich durch geduldige arbeitsame Gelassenheit aus, schicken sich nicht zu Reformen und lassen sich despotisch beherrschen.“

Die „Forderung nach nationaler Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz“ auch im Bekenntnis zur eigenen Sprache (Gardt, ebd.) gelangte vermutlich über den akademischen Lehrbetrieb im nächsten Jahrhundert zum Schlesier Martin Opitz und seinem Pfälzer Weggefährten Julius Zincgref. Der will sich, wie er in der Vorrede zu Opitz’ Gedichten (Straßburg 1624) betont, nicht „mutwillig zu Sklaven fremder Dienstbarkeit machen, sintemal es ein nicht geringeres Joch ist, von einer ausländischen sprach als von einer ausländischen Nation beherrschet und Tyrannisiret zu werden“.

Ähnliches liest man bei der akademischen Jugend im 18. Jahrhundert, die sich über ein deutsches Nationaltheater die politische Einheit erhofft. Lessing notierte demgemäß in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ 1768: „Wir sind noch immer die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen.“ Weniger bekannt ist Mozarts ironische Unmutsäußerung (1787): „Das wäre ja ein ewiger Schandfleck für Teutschland, wenn wir Teutsche einmal mit Ernst anfingen, teutsch zu denken – teutsch zu handeln – teutsch zu reden und gar – teutsch zu singen!“

Daß das in eine kulturpolitische Kontroverse hineingesagt ist, zeigen Bemerkungen Wielands, Schillers, Kants oder Schubarts. „Wer das Deutsche Reich aufmerksam durchwandert“, schreibt zum Beispiel Wieland, „lernt zwar nach und nach Österreicher, Brandenburger, Sachsen, Pfälzer, Baiern, Hessen, Württemberger usw. mit etlichen hundert kleineren Völkerschaften, aber keine Deutschen kennen. Was wunder also, wenn Gleichgiltigkeit und Kälte gegen allgemeines Nationalinteresse den Fremden als ein Charakterzug der Deutschen auffällt.“ Ähnlich Kant: „Der Teutsche hängt sich nicht so sehr an seinem Vaterlande, und das zeugt von einem gewissen aufgeklärten Volke. Besonders zeichnen sie sich durch geduldige arbeitsame Gelassenheit aus, schicken sich nicht zu Reformen und lassen sich despotisch beherrschen.“ (Kants Menschenkunde, Leipzig 1831)

Die Debatte unter führenden Köpfen um 1800, gekennzeichnet durch Spießbürgertum, Weltbürgertum, Landespatriotismus, Reichspatriotismus und „Gleichgiltigkeit“, amalgamiert seit dem Freiheitskampf gegen Napoleon im 19. Jahrhundert zu einer unterschiedlich starken, doch bleibenden nationalen Bewegung, teils mehr in adligen, akademischen und bürgerlichen Kreisen, teils auch die Volksmasse mitreißend, etwa in der Rheinkrise 1840/41 und beim Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, teils abnehmend zugunsten von Begeisterungswellen für andere Völker, etwa für die Aufstandsbewegungen der Griechen und Polen. 1832 werden neu eintreffende polnische Flüchtlinge überall jubelnd begrüßt.

Es bleibt festzuhalten: Ein deutsches Nationalgefühl existiert seit dem Mittelalter. Das Bewußtsein, einem Volk anzugehören und Mitverantwortung zu haben, entwickelt sich allerdings unterschiedlich. Bei Adligen, Beamten, Gelehrten, Dichtern, Kaufleuten, Handwerkern und Soldaten ist es stärker ausgeprägt als bei unteren Schichten. Erlebte Konfrontation mit Ausländern trägt zur Identitätsbildung bei. Politische Mythen wie die Anknüpfung an „die germanischen Helden“, die Überzeugung von der Apriori-Existenz einer deutschen Nation oder Kaiser-Mythen des Mittelalters waren und bleiben integrierende Bestandteile nationaler Selbstvergewisserung.

Mythen haben die gleiche Funktion wie Legenden in der Religion. Sie beheimaten geistig kraft symbolischer Wahrheit. Die seit dem Spätmittelalter und nicht erst seit den kollektiven Katastrophen des 20. Jahrhunderts an innerer Unsicherheit leidenden Deutschen können, dürfen und sollen sich ihrer langen, reichen historischen Existenz einschließlich ihrer Geschichtsmythen erfreuen. Dann werden sie die heutige Herausforderung bestehen. Wie zahlreiche andere in ihrer Geschichte.






Peter Börner, Jahrgang 1941, ist Studiendirektor im Ruhestand. Er studierte Germanistik und Katholische Theologie in Bonn und Freiburg. Börner steht der Bundesheimatgruppe Bunzlau in Siegburg vor.