© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Peter Longerich präsentiert manch politisch unkorrekte Erkenntnis über das NS-Regime
Hitlers Biograph
Jürgen W. Schmidt

Die Vorstellung, Hitlers Herrschaft habe in erster Linie auf der enthusiastischen Zustimmung der Mehrheit des deutschen Volkes beruht, greift entschieden zu kurz.“ Das ist nur eine der latent politisch unkorrekten Erkenntnisse aus dem neuen Buch Peter Longerichs. Aber sind da nicht die bekannten Filmbilder Hitler zujubelnder Deutscher, mit denen wir fast allabendlich in TV-Dokumentationen vom Gegenteil überzeugt werden sollen? „Diese Bilder kann man vergessen, sie beweisen gar nichts“, so Longerich „(sie) sind durch einen Propagandaapparat erzeugt worden (...) wir müssen aufpassen, daß wir nicht die letzten Opfer der Nazi-Propaganda werden.“

Was sich liest wie eine unterschwellig revisionistische These stammt von einem renommierten Londoner Historiker, dessen jüngst erschienene monumentale Hitler-Biographie weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt hat.

Peter Longerich kam 1955 in Krefeld zur Welt. Er studierte bei Gerhard A. Ritter und spezialisierte sich, ab 1983 als Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, auf die Geschichte des Nationalsozialismus. 2006 erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität London, wo er heute das Zentrum für die Erforschung des Holocaust und der Geschichte des 20. Jahrhunderts leitet. Zu diesem Erfolg dürfte Longerichs Gutachten im aufsehenerregenden Verleumdungsprozeß von David Irving gegen die Historikerin Deborah Lipstadt im Jahr 2000 beigetragen haben. In London wandelte sich Longerich, der sich bislang mit dem Holocaust sowie der Geschichte von SA und NSDAP befaßte, zum Biographen. 2008 erschien seine Himmler-Biographie im Umfang von 1.035 Seiten, der 2010 eine Goebbels-Biographie von über 900 Seiten folgte. Ende 2015 nun ist „Hitler. Biographie“, so der lakonische Titel, mit ebenfalls 900 Seiten erschienen.

Im fernen London residierend, deshalb nicht in die Grabenkämpfe deutscher Geschichtspäpste verwickelt, stellt Longerich in seinem neuen Buch jahrzehntelang festgezurrte historische Axiome in Frage. Zum Erstaunen mancher tritt er etwa vehement gegen die Bewertung Hitlers als „schwacher Diktator“ auf, die Martin Broszat und der kürzlich verstorbene Hans Mommsen in den letzten vier Jahrzehnten postulierten. Dies ist kein Streit um des Kaisers Bart, denn war Hitler tatsächlich ein sogenannter „starker Diktator“, wie man bis in die sechziger Jahre hinein glaubte, dann kann und muß man die „Verantwortlichkeit“ breiter Volksschichten für Holocaust und Kriegsverbrechen auf ein angemessenes Maß zurückschrauben. Zudem habe sich Hitler erst nach 1918 zum eliminatorischen Antisemiten gewandelt. Vorher, so Longerich, habe Hitler „den konventionellen Antisemitismus seiner Zeit geteilt, aber er war nicht das entscheidende Element, und er hat ihn auch nicht daran gehindert, zu einzelnen Juden relativ gute Beziehungen zu unterhalten“.