© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Der Flaneur
Begegnung mit Hermes
Paul Leonhard

Mitunter ist der Götterbote Hermes zu spät und gleichzeitig zu früh dran. Sonnabend morgen um 9.30 Uhr zu läuten, haben bisher weder der DPD noch die Post draufgehabt. Eine vollkommen ungewohnte Uhrzeit für Paketsendungen, sogar für überfällige. „Hermesversand, ein Päckchen für Sie“, flötet eine weibliche Stimme durch die Wechselsprechanlage. „Moment bitte, ich komme runter“, antworte ich, gerade aus der Dusche kommend. Ich ließ den Bademantel fallen, zog eilends Hemd und Jeans an, strich die Haare zurecht und hoppelte die Stufen herunter.

Vergangene Woche hatte ich nahezu alle Paketdienste kennengelernt, nachdem zuvor meine Liebste E-Bay für sich entdeckt hatte. Von ihrem Kaufrausch war lediglich ein Paket noch überfällig: der Kabelbaum, mit dem ich auf ihren Wunsch die alte MZ 250 aus Zschopau wieder fahrtüchtig machen sollte. Der Verkäufer wohnt eigentlich gleich um die Ecke, aber aus irgendeinem Grund war die Lieferung schon zwei Tage überfällig. Das jetzt mußte sie sein.

So früh am Morgen wollte ich nicht noch mehr Götterzorn auf mich ziehen.

Mich in Gedanken schon in der Garage bastelnd wähnend, sprang ich also die Treppen herunter, und fast am unvermutet die Stufen heraufschnaufenden Hermes vorbei. Eine Götterbotin mit blauer Pudelmütze statt Flügelhelm, konstatierte ich gerade noch, als mich auch schon ihr Heroldsstab traf. Warum ich den Türöffner nicht betätigt hätte?, herrschte mich die Dienstleisterin an. „Das mache ich nie“, sagte ich verblüfft. Noch kein Paketzusteller habe sich darüber beschwert. Wie eine Bittstellerin habe sie sich gefühlt, schimpfte sie. Und überdies sei draußen Winter, da lasse man niemanden vor der Tür stehen.

Schweigend bestätigte ich den Empfang des Päckchens. So früh am Morgen wollte ich nicht noch mehr Götterzorn auf mich ziehen. Aber das mit dem Winter beschäftigte mich schon. Eine Stunde später holte ich bei strahlendem Sonnenschein das Auto aus der Garage, klappte das Verdeck auf, stellte das Gebläse warm und mich auf Frühling ein. Wäre ich der Hermesbotin noch einmal begegnet, hätte ich fröhlich gehupt. Von wegen Winter.