© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Mit viel Pathos für Europa
Zwischen Humanismus und Sowjetmacht: Dem Schrfitsteller Romain Rolland zum 150. Geburtstag
Dirk Glaser

Um die innere Verfassung seines Landes angesichts von islamistischem Terror, gescheiterter „Integration“ der fünf Millionen Muslime, Wirtschaftsmisere und dem unaufhaltsam scheinenden Vormarsch des Front National zu erklären, bemühte der Soziologe Emmanuel Todd kürzlich das Bild von den „zwei Frankreich“ (Die Zeit, 7. Januar 2016).

Demnach stünde dem republikanischen, liberalen, egalitären Frankreich, konzentriert in und um Paris, das katholische, konservative, familiär-hierarchische Frankreich der Provinz gegenüber. Und der linksliberale Todd versagt es sich nicht, daran zu erinnern, daß diese Provinz, die sich den Werten der Revolution von 1789 weiterhin trotzig verweigere, angeblich die Basis des mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierenden Vichy-Regimes gebildet habe.

Nach diesem simplen Schema von Fortschritt und Reaktion, das in Todds durchsichtigem Versuch steckt, Front National und bürgerlich-rechte Mitte mit Vichy zu belasten, lassen sich die historisch gewachsenen psychosozialen Tiefenstrukturen Frankreichs schwerlich erfassen. Wie an der Biographie des vor 150 Jahren, am 29. Januar 1866, im burgundischen Clamecy geborenen Literatur-Nobelpreisträgers Romain Rolland abzulesen ist, der sich, in Abgrenzung zu den ihm verhaßten „mischblütigen“ Führern der chauvinistischen Action Française, gern einen Urfranzosen („Français de France“) nannte. 

Mit Recht, denn mehr Verwurzelung in der Provinz, mehr Katholizismus, mehr abendländische Tradition geht kaum. Clamecy wurde 634 nach Christus erstmals urkundlich erwähnt. Im benachbarten Wallfahrtsort Vézelay, Rollands Alterssitz, wo er Ende 1944 starb, rief Bernhard von Clairvaux 1146 zum zweiten Kreuzzug auf. Gleichfalls um die Ecke liegt Alesia, wo der Aufstand der Gallier unter Vercingetorix gegen Cäsars Legionen zusammenbrach. 

Diesem gallisch-keltischen Kernland entstammten im Falle Rollands jedoch zwei Familien, die sich in Todds Klischee von katholischer Provinzialität keinesfalls fügen. Zwar ist an der Glaubensstärke in der mütterlichen Linie, den Courots, nicht zu zweifeln. Aber aus orthodox-römischer Sicht galten sie als Ketzer, weil sie im 17. und 18. Jahrhundert der Gnadenlehre des Jansenismus anhingen. Und unter den väterlichen Ahnen, ungeachtet der fünf Generationen honoriger Juristen, auf die der Sohn eines Notars in Clamecy zurückblickte, findet sich ebenfalls ein großer Unangepaßter, der Urgroßvater, der beim Sturm auf die Bastille dabei war und sich als einer der eifrigsten Jakobiner im heimatlichen Département Nièvre hervortat. 

„Idealismus der Tat“ für die „Epoche ohne Glauben“

Wie dann auch der Lebensweg seines Ur-Enkels erweisen sollte, determiniert ein provinzielles Herkunftsmilieu eben nicht vormoderne Werthaltungen. Rolland jedenfalls, seit 1886 auf der École Normale Supérieure eine klassische Karriere als Gymnasiallehrer ansteuernd, verkörperte das rebellische Familienerbe und blieb stets bestrebt, trotz konstanter Orientierung an den Ideen von 1789, möglichst zwischen allen Stühlen Platz zu nehmen.  

So engagierte er sich, nachdem er den christlichen Glauben hinter sich gelassen hatte, während der 1890er Jahre in der Dreyfus-Affäre als Publizist und Dramatiker auf der Linken. Um sich dann plötzlich an der Seite des zum Katholizismus konvertierten Sozialisten Charles Péguy zum Kulturkrieger und moralisch hochgerüsteten „Sittenprediger“ (Eugen Lerch, 1926) zu wandeln, der zu Felde zog gegen Émile Zola, den temporären Mitstreiter und Wortführer der Dreyfus-Anhänger. Auf Zola und dessen Adepten zielen, das hieß, den von ihnen repräsentierten materialistischen Zeitgeist der französischen „Advokatenrepublik“ treffen. 

Rollands erzählerisches Hauptwerk, der zehnbändige Künstlerroman „Jean-Christophe“ (1904 bis 1912), geriet im fünften Band („La Foire sur la Place“, 1908) daher zur ätzenden Abrechnung mit dem „Jahrmarkt“ der Pariser Öffentlichkeit, die dem nach dem Muster von Beethovens Biographie gestalteten Helden als Pandämonium aus „Geldherrschaft und Konnexionen, Presse und Phrase, jüdischer Finanzaristokratie, Freimaurern, Sozialisten und Anarchisten“ entgegentritt – „ein unschätzbares Kulturbild“ (Ernst Robert Curtius) der Gesellschaft eines verfaulenden demokratischen Staatswesens.

Nicht zuletzt wegen dieser scharfen Attacke auf das „durch Geld, Sensationsgier und Lüge demoralisierte Paris“ (Curtius), verschwand das Epos in der Schweigespirale des hauptstädtischen Literaturbetriebs. Wäre Rolland, seit 1904 Professor für Musikwissenschaft an der Sorbonne, den lebensgefährlichen Verletzungen erlegen, die er 1910 bei einem Autounfall erlitt, wäre mit wenigen Zeilen der Tod eines Gelehrten gemeldet worden, der neben einem bedeutenden musikhistorischen Œuvre nur ein paar glücklose Dramen, einen vom Publikum ignorierten Roman sowie „heroische“ Biographien Beethovens (1903), Michelangelos (1905 und 1906), Händels (1910) und Tolstois (1911) hinterlassen habe, die allesamt vergeblich versucht hatten, einer dekadenten „Epoche ohne Glauben“ einen neuen humanistischen „Idealismus der Tat“ anzudienen.

Diese mönchische Schattenexistenz endete mit dem Kriegsausbruch 1914, der Rolland in der Schweiz überraschte, wo er unverzüglich im Genfer Auskunftsbüro des Roten Kreuzes zu arbeiten begann und sich mit pazifistisch- kosmopolitisch gestimmten Artikeln im Journal de Genève als „Gewissen Europas“ und „Pfadfinder“ der nach der Einheit des Kontinents strebenden „europäischen Seele“ (Stefan Zweig, 1921) profilierte. Was ihn anfangs indes nicht hinderte, die Entente-Propaganda gegen den „preußischen Militarismus“ nachzubeten. Erst die Lektüre diverser „Weißbücher“ zu den Kriegsursachen korrigierte seine Überzeugung von deutscher „Alleinschuld“. Was in Frankreich prompt in den Boykott seiner Bücher mündete, weil man ihren Verfasser als „Agenten des Kaisers“ denunzierte.

Eine internationale Elite des Geistes als Vision

Da für ihn die Masse der Politiker und Intellektuellen aller Kriegsparteien ihre Unfähigkeit zur Führung 1914 bewiesen hatte, hoffte er fortan für die sozial gerechte „Organisation der Welt“ auf eine internationale Elite des Geistes. Deshalb schlug der sich „über den Parteien“ wähnende Rolland 1917 die Einladung des Züricher Exilanten Lenin aus, im plombierten Zug der bolschewistischen Weltrevolution entgegenzueilen. Erst seit 1931 erwartete er das Heil der Menschheit nicht länger von einer Humanisten-Elite, sondern exklusiv von Stalins Sowjetmacht.

Seine Apologie des Gulag-Staates beschädigte Rollands Ansehen als moralische Instanz nachhaltig und trug, zusammen mit dem nach 1945 befremdlich wirkenden hohen, bisweilen hohlen Pathos seiner Schriften dazu bei, daß man sich von dem einst weltberühmten Autor abwandte. Nur im „Leseland DDR“ hielt man dem Sympathisanten des „Brudervolkes“ die Treue. Ein ungerechtes Vergessen. Denn gerade heute sollten sich Europäer, allen voran das Potential ihrer „Provinz“ schmähende Franzosen, an diesen in Zeiten des Massenwahns bewährten unabhängigen Geist ab und an erinnern. 

Foto: Maxim Gorky mit Romain Rolland (r.) in Moskau 1935: Auf der Suche nach dem Heil der Menschheit ausgerechnet bei Stalin gelandet