© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Warum die Freiheit mehr von linken als von rechten Kollektivisten bedroht wird
Das Ziel ist der All-Staat
Erich Weede

Kollektivisten betonen den Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum. Sie sind allzeit bereit, Individuen dem angeblichen Wohl des Kollektivs zu opfern. Linke und rechte Kollektivisten unterscheiden sich darin, für welches Kollektiv sie bereit sind, andere zu opfern. Die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, ist ja immer geringer als die Bereitschaft, andere zu opfern.

Bei allen Kollektivisten ist der Staat das Instrument der Wahl. Sie wollen alle Macht dem Staat geben, keine Macht den „verdorbenen“ und „eigennützigen“ Individuen lassen. Im Dritten Reich waren das deutsche Volk oder die „arische Rasse“ das auserwählte Kollektiv, dem man Menschenopfer bringen sollte und mußte. Der Machtanspruch der rechten Kollektivisten kam in Sprüchen wie dem folgenden zum Ausdruck: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Bei den Marxisten waren das Proletariat oder dessen selbsternannte Vorhut, die Partei, das auserwählte Kollektiv.

Beide Arten des Kollektivismus sind gescheitert. Der rechte Kollektivismus ist mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 unübersehbar gescheitert. Die militärische Niederlage hat den deutschen Nationalismus nicht nur in seinen extremen Formen delegitimiert, sondern die Vertretung aller nationalen Interessen überhaupt. Der völkische oder rassistische Kollektivismus ist in Deutschland tot. Wiederbelebungsversuche durch einzelne Wirrköpfe haben keine Chance. Vor Toten muß man keine Angst haben.

Während der rechte Kollektivismus immer eine klar dualistische Moral vertreten hat – gegenüber dem eigenen Volk muß Rücksicht geübt werden, da gelten moralische Verpflichtungen, gegenüber Fremden aber keine –, ist der linke Kollektivismus tendenziell Träger einer universalistischen Moral. Die Marxisten erwarteten, daß der Kapitalismus durch Verelendung von immer mehr Menschen fast die ganze Menschheit zu Proletariern machen würde, daß der Kampf gegen das Kapital folglich fast allen diene.

Mit dem „fast“ ist schon angedeutet, daß die linken Kollektivisten in der Praxis ebenfalls dem Freund-Feind-Denken verhaftet geblieben sind, daß die universalistische Moral der Linken eher Lippenbekenntnis als gelebte Praxis war. Massenmorde – in Zigmillionenhöhe – haben linke wie rechte Kollektivisten zu verantworten. Wenn man mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Rudolph Joseph Rummel und seinem Buch „Death by Government“ (1994) nachzählt, wird man feststellen, daß die Zahl der Menschenopfer des linken Kollektivismus die des rechten um ein Vielfaches überschreitet. Dennoch behält der universell-humanitäre Anspruch der linken Kollektivisten eine gewisse Attraktivität, weil man bereit ist zu übersehen, daß er in der historischen Praxis nicht eingelöst wurde, weil man der Frage ausweicht, ob ein universell-moralischer Anspruch vielleicht real existierende Menschen mit ihrer weitverbreiteten Neigung zum Eigennutz überfordert.

Der linke Kollektivismus, der Marxismus und seine Ableger, haben noch aus einem anderen Grund bessere Durchsetzungschancen als der rechte. Das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und erfolgreiche Revolutionen danach in Asien haben zur Legitimation dieser Variante des Kollektivismus beigetragen. Sieg legitimiert, Niederlage delegitimiert. Während das rechte Heilsversprechen der militärische Sieg war, bestand das linke Heilsversprechen im Sieg über die Armut beziehungsweise in steigendem Wohlstand.

Seit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des sozialistischen Lagers versuchen die Linken, die verhaßte bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftsordnung durch schleichende Machtübernahme zu überwinden. Instrument bleibt der Staat.

Auch dieses Heilsversprechen wurde verfehlt. Wo linke Kollektivisten herrschten, wurden Konsumentenwünsche nie so gut wie beim kapitalistischen Klassenfeind erfüllt. Das gilt auch dann noch, wenn man sich ausschließlich für den Lebensstandard der ärmeren Hälfte von Bevölkerungen interessiert. Aber die Niederlagen an der „Produktionsfront“ waren meist nicht so glasklar wie die militärische Niederlage des Dritten Reiches. Linke Kollektivisten hatten es leichter, sich selbst zu belügen und ihr ökonomisches Versagen wegzudisputieren.

Dennoch gibt es die marxistische Altvariante des linken Kollektivismus heute kaum noch. Am Ende des 20. Jahrhunderts versuchten Linksintellektuelle einen Ersatz für das zunehmend in den Kapitalismus integrierte Proletariat zu finden. Die Dependenztheoretiker wurden in den Entwicklungsländern, bei deren armen Massen, fündig. Das paßte zum alten tendenziell universalistisch-humanitären Ansatz. Die Mehrheit der Menschheit war arm und lebte in Entwicklungsländern. Die demographische Entwicklung versprach das Gewicht dieser Länder zu erhöhen.

Übersehen hatte man dabei, daß der verhaßte Kapitalismus, der den Eigennutz der Menschen oder ihr Profitstreben nicht überwinden, sondern zum Nutzen aller mobilisieren wollte, dabei war, global die Armut wesentlich zu reduzieren. Die oft verwendete globale Armutsschwelle von 1,25 Dollar pro Tag und Person ist zwar willkürlich und die Datenqualität läßt zu wünschen übrig, aber ein Rückgang der globalen Armutsquote von circa 70 auf etwa 20 Prozent der Menschheit in einem Jahrhundert spricht dafür, daß die linken Kollektivisten wiederum falschliegen.

Aber noch gibt es genug Arme auf der Welt, daß Linke immer noch leugnen können, was eine den Eigennutz mobilisierende statt verteufelnde Wirtschaftsordnung leisten kann und schon geleistet hat. Den Tatsachen ins Auge zu sehen, hieße ja auch, die Hoffnungen der intellektuellen Kader auf ein gut besoldetes Staatsamt in Frage zu stellen. Ein expandierender Staat bietet nun mal mehr Pöstchen als ein schrumpfender.

Den universalistisch-humanitären Anspruch kann man auch sehr gut mit der Sorge um das Weltklima verbinden, wie jüngst in Paris geschehen. Die Frontstellung gegen Eigennutz, die Anarchie des Marktes und das Kapital bleibt intakt. Die Expansion des Staates bekommt eine zusätzliche Grundlage. Daneben wird die Politische Korrektheit – oder synonym: der „Kampf gegen Rechts“ – zur Hauptaufgabe der Linken. Das für Linkskollektivisten schönste an diesem Kampf ist, daß man den jedenfalls in Deutschland toten Rechtskollektivismus und das individualistische Gegenteil eines jeden Kollektivismus in einen Topf werfen kann, daß man die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus auch als Argument gegen eine freiheitliche Wirtschaftsordnung anführen kann.

Denn das Etikett „Rechts“ wird bei uns ja nicht nur denen angeheftet, die Hitlers Großdeutschem Reich nachtrauern, sondern auch denen, die für eine freie statt einer sozialen Marktwirtschaft eintreten. Während den Nationalsozialisten der Staat gar nicht groß und mächtig genug sein konnte, ist für den Freiheitsfreund eher Liechtenstein der Idealstaat, zumal dort auch die elf Gemeinden noch ein konstitutionell abgesichertes Sezessionsrecht haben. Verlogene Argumentation hat Linke noch nie abgeschreckt. Man dient ja einem guten Zweck und hofft auf ein Pöstchen in der Regierung oder im öffentlichen Dienst.

Seit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des sozialistischen Lagers versuchen die Linken, die verhaßte bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftsordnung durch eine schleichende Machtübernahme zu überwinden. Nicht mehr Kommunisten oder Sozialdemokraten sind die reinste Inkarnation des linken Kollektivismus, sondern die Grünen. Instrument bleibt der Staat. Seine Aufgaben sollen expandieren. Das Klima zu retten ist zur Staatsaufgabe geworden. Daß die Möglichkeiten eines Landes mit knapp einem Prozent der Weltbevölkerung und knapp drei Prozent der globalen Wirtschaftskraft – beide Anteile werden mit Sicherheit fallen – beschränkt sind, wird in Deutschland übersehen. Auch daß die Verlagerung schmutziger Industrien aus einem relativ grünen Land in weniger grüne Länder dem Weltklima nicht nützt, wird übersehen.

Linkskollektivisten von heute sind zur ursprünglichen marxistischen Strategie der Machtübernahme in den Zitadellen des Kapitalismus, im Westen, zurückgekehrt. Neben der „Klimarettung“ spielt dabei die Masseneinwanderung eine entscheidende Rolle.

Die Stärke der linken und grünen Kollektivisten ist nicht die Abschätzung der Folgen politischer Maßnahmen, sondern das Moralisieren. Während die Dependenztheoretiker den Kapitalismus durch Machtübernahme an der weltwirtschaftlichen Peripherie in Bedrängnis bringen wollten, sind die Linkskollektivisten von heute zur ursprünglichen marxistischen Strategie der Machtübernahme in den Zitadellen des Kapitalismus, im Westen, zurückgekehrt. Neben der „Klimarettung“ spielt dabei die Massenzuwanderung durch Asylanten und Flüchtlinge eine entscheidende Rolle. Der universal-humanitäre Anspruch der linken Kollektivisten verbietet die Unterscheidung zwischen uns und Fremden – ob in Deutschland, in Europa oder dem Westen allgemein. In der Theorie ist dualistische Moral verpönt. In der Praxis jedoch erlaubt der „Kampf gegen Rechts“ gegen alle, die den linken Heilsversprechungen nicht folgen wollen, die Wiedereinführung des Freund-Feind-Denkens.

Weil Asylanten und Flüchtlinge aus armen Ländern und Bürgerkriegsländern nicht für Arbeitsplätze in wirtschaftlich und technologisch höher entwickelten Ländern ausgebildet sein können, muß eine humanitär begründete Zuwanderungspolitik die sozialen Sicherungsnetze belasten, muß eine derartige Politik früher oder später zu Steuererhöhungen und Verunsicherung der Eigentumsrechte, etwa durch Beschlagnahmungen von Wohnraum, führen. Das Funktionieren einer freiheitlichen oder kapitalistischen Wirtschaftsordnung wird damit gleich doppelt hintertrieben: Man verschlechtert die Humankapitalausstattung der Volkswirtschaft und hat gleichzeitig einen Vorwand dafür, den Markt zurückzudrängen und staatliche Planung voranzutreiben.

Weil die Massenzuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen andere Gewohnheiten, andere Moral- und Rechtsvorstellungen ins Land bringt, wird das gemeinsame Gewohnheits-, Normen- und Wertefundament der Gesellschaft brüchiger. Das hat an vielen Stellen der Welt und immer wieder in der Geschichte zu politischer Instabilität oder gar Bürgerkriegen geführt, etwa in der syrischen Heimat vieler Menschen der gegenwärtigen Flüchtlingswelle. Der linke Moralist sieht hier weniger Gefahren für die aufnehmende Gesellschaft als eine zusätzliche Chance, die Staatstätigkeit auszuweiten. Man braucht mehr Sozialarbeiter und Integrationshelfer, auch mehr Juristen zur Durchsetzung der Rechte von Asylanten und von Antidiskriminierungsgesetzen. Mit letzteren wird zwar die Vertragsfreiheit beschränkt, aber die hat im links-grünen Reich der Tugend keinen Platz mehr.

Daß staatliche Planung nicht funktioniert hat und nicht funktionieren kann, wird verdrängt. Weil man weder Mises noch Hayek kennt, fällt das leicht. Für Grüne und andere linke Kollektivisten gilt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wer die Frage der Leistungsfähigkeit von Markt und Staat auch nur zu stellen wagt, der gilt als Reaktionär. Die Chance einer gewaltigen Ausdehnung der Staatstätigkeit durch die Öffnung westlicher Wohlfahrtsstaaten für Notleidende aus aller Welt möchte sich kein Gutmensch und Linkskollektivist entgehen lassen.






Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politologe, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Zuletzt behandelte er in einem vielbeachteten Essay die Frage, ob Liberale eine „rechte Flanke“ hätten („Im linken Lager gelandet“, JF 24/15).

Foto: Migrantenmassen als Mittel für sozialistische Politik: Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung wird damit gleich doppelt hintertrieben: Man verschlechtert die Humankapitalausstattung der Volkswirtschaft und hat gleichzeitig einen Vorwand dafür, den Markt zurückzudrängen und staatliche Planung voranzutreiben.