© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Pankraz,
der Großmufti und das böse Schachspiel

In Saudi-Arabien soll gemäß einer „Fatwa“ des dortigen Großmuftis Scheich Abd al Aziz Al Sheikh, der höchsten theologischen Autorität im Lande, das Schachspiel vollständig aus dem öffentlichen Raum verbannt, vulgo: verboten werden. Wie Alkohol und Glücksspiel sei  Schach, so der Scheich, „das Werk Satans“. Es mache, ohne auf Recht und Verdienst zu achten, den Reichen arm und den Armen reich. Es führe zu Feindseligkeiten und Zeitvergeudung. Es müsse schleunigst durch Gebete an Allah ersetzt werden.

Immerhin, ein Mitglied des saudischen Schachverbands wagte es, auf Twitter seinen Sport energisch zu verteidigen. Schach, schrieb er, gehöre seit Jahrhunderten zur arabischen Kultur wie Teetrinken und Kamelezüchten. Es sei kein Glücksspiel, sondern ein Kampfspiel. Man habe in Mekka und Medina von jeher öffentliche Schachturniere veranstaltet und gedenke das auch künftig zu tun, „sofern man nicht zum Gegenteil gezwungen wird“.

Mutig gesprochen, zweifellos, aber mit schiefen Argumenten für die verteidigte Sache. Gewiß, das Schach, dieses wundersame, farbenreiche und von Kampfeslärm durchtoste Brettspiel, war eine Erfindung des Orients, und die Araber waren es, die das Abendland einst mit seinen Regeln bekannt machten. Auch schien es tatsächlich  fast das Gegenteil eines typischen Glücksspiels zu sein. Die siegreiche Seite gewinnt die jeweilige Partie ja nicht durch „Glück“ wie im Lotto, sondern durch überlegene Spielstrategie, kühne, riskante Taktiken, raffinierte Züge.


Aber wieso denn der so beflissen bezeugte Haß des Twitterers auf Glücksspiele? Diese sind (wie Wetten überhaupt) von Haus aus keineswegs unmoralisch. Kein einziges religiöses oder staatliches System außer dem Islam ist bekannt, das so etwas behauptete, obwohl schon im alten China und im alten Athen leidenschaftlich gewettet und gespielt wurde, oft um höchste Einsätze, um Lieblingsfrauen und Lieblingswaffen, um Grundstücke und viel, viel Geld.

Wetten und Glücksspiele galten überall als eine willkommene Unterbrechung des von Gesetzen und Notwendigkeiten umstellten Alltags. Sie beförderten Hoffnungen, sie vermittelten direkten Kontakt zu den Göttern, zur Zufallsgöttin Fortuna jedenfalls, welche man herausforderte und der man sich auslieferte. Stets wurde um Positivitäten gewettet, eben um Glück, nicht um Unheil. Warum sollte dergleichen nicht auch im Namen Allahs zugelassen werden? Auch in den islamischen Ländern gibt es doch genug Sehnsucht danach, sich das Leben zu versüßen und gelegentlich am Kelch von Fortuna zu nippen!

Weder der Großmufti von Mekka mit seiner Anti-Schach-Fatwa noch sein Widersacher auf Twitter scheinen übrigens gemerkt zu haben, daß die Sache mit dem Schach sich seit einiger Zeit gewissermaßen von selbst erledigt hat. Die modernen Computer mit ihren ungeheuren Speicherkapazitäten und Zählgeschwindigkeiten haben die besten menschlichen Schachspieler auf der ganzen Linie besiegt. Heutige Schachweltmeister heißen „Deep Fritz Nummer 7“ oder so ähnlich, und es sind spezielle Apparate, die im Nu alle nur denkbaren Zugmöglichkeiten abgreifen und optimal darauf reagieren.

Das menschliche Gehirn seinerseits ist alles andere als eine bloße Abzähl- und Rechenmaschine, es operiert intuitiv und strategisch und bezieht von daher seine größten Erfolge. Zwar vermag es sich bei Bedarf in hohem Maße „binär“ zu verhalten, das heißt sich auf reines Entweder-Oder-Denken zu orientieren, aber bei einem Kampfspiel wie dem Schach, das – außer aus Entweder-Oder – aus einem kompletten binären Regelwerk besteht, ist der Computer auch dem findigsten und entscheidungsfreudigsten Menschen überlegen. 

Der setzt unverdrossen auf raffinierte Strategien, die den Gegner in die Irre führen und zu Fehlern verleiten sollen, er versucht, ihn auf falsche Fährten zu locken, ihn in Fallen laufen zu lassen oder sonstwie abzulenken. Aber dieser Gegner, die Maschine, denkt gar nicht daran, sich auf derlei Strategien einzulassen (weil er gar nicht denken kann), er spult statt dessen stur sein Abzählprogramm ab und klinkt nicht minder stur bei der entsprechenden, zum Erfolg führenden Zählposition ein. Und das genügt, um letzten Endes die Oberhand zu gewinnen.

 

Das „Glück“, das Glückhaben, das an sich zu jedem echten Spiel dazugehört, ist im modernen Schachspiel total ausgeschaltet, genau im Gegensatz zur natürlichen menschlichen Disposition. Selbst Schachgroßmeister, die das binäre Entweder/Oder-Denken komplett verinnerlicht haben, bleiben dabei immer noch Menschen. Sie setzen beim Überlegen der nächsten Züge automatisch den Zufallsgenerator in Gang, sinnen auf Optimierungsstrategien, versuchen, sich von den Absichten der Gegenseite eine Vorstellung zu machen, denken in „Zügen“. Und genau deshalb können sie gegen moderne Computer nicht mehr gewinnen, selbst wenn sie doppelter und dreifacher Weltmeister sind. 

Insofern könnte der Großmufti eigentlich ganz gelassen bleiben und sich in seinem Glauben bestätigt fühlen. Denn das von ihm so gehaßte Schachspiel ist weder ein Glücks- noch ein Kampfspiel, es ist nämlich im Zeitalter von Deep Fritz überhaupt kein Spiel mehr, vielmehr ein technisch-mechanischer, die von Allah geschaffenen mathematischen Gesetze blind vollziehender Klapperatismus, der die vorwitzigen, auf Spiel und Kappelei so versessenen Menschen gründlich darüber belehrt, wo es langzugehen hat.

Fatwas sind im Islam von höchster theologischer Stelle deklarierte Anweisungen, die aber – wenigstes in Saudi-Arabien – nicht sofort Gesetzeskraft erlangen. Der Staat muß das Gesetz  nachreichen. „Verbesserungsvorschläge“ können – mit allem Respekt – angemeldet werden. Vielleicht sollte jener ebenso mutige wie schachlustige Twitterer den Großmufti und die Regierung in Riad darauf hinweisen, daß das Schachspiel, unter modernsten Erkenntnissen betrachtet, nichts weiter sei als ein ewiges Gebet zum Ruhme Allahs und seiner unverbrüchlichen Naturgesetze.