© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Eine Fülle an Beweisen
Abschluß der Untersuchung im Mordfall Litwinenko: Indizien sprechen für Täterschaft des Kremls
Christian Rudolf

Nichts ist so fein gesponnen, daß es nicht käm’ zur Sonnen: Was ein niemals aufzudeckender Mordanschlag auf den russischen Ex-Agenten und Putin-Kritiker Alexander Litwinenko bleiben sollte, hat sich durch den Dilettantismus der Mörder sowie die hartnäckig Gerechtigkeit fordernde Witwe doch noch nachweisen lassen. Bei der Präsentation des Abschlußberichts am 21. Januar sprach Richter Sir Robert Owen das Ungeheuerliche aus: Nicht nur der damalige Chef des russischen Geheimdienstes FSB, Nikolaj Patruschew, sondern auch Staatspräsident Wladimir Putin persönlich habe die FSB-Operation zum Mord an Litwinenko in London 2006 „wahrscheinlich gebilligt“. Eine „Fülle an Beweisen“ konnte auch letzte Zweifel an der unmittelbaren Täterschaft des Geschäftsmannes und heutigen Duma-Abgeordneten Andrej Lugowoj und dessen Jugendfreund Dmitrij Kowtun widerlegen. Daß es überhaupt zu der den Regeln eines Gerichtsverfahrens folgenden Anhörung gekommen war, geht auf das Engagement der Witwe Marina Litwinenko zurück, die vor dem Londoner Obergericht geklagt hatte.

Litwinenko war am 1. November 2006 in einer Londoner Hotelbar mit dem radioaktiven Isotop Polonium 210 vergiftet worden. Nur Stunden vor seinem Tod am 23. November wurde dessen Harn auf Alpha-Strahlung untersucht, wodurch Scotland Yard auf die Polonium-Spur kam. Die Radioaktivität der Substanz wird von gewöhnlichen Geigerzählern nicht registriert. Der Einsatz von Polonium als Gift war niemals zuvor dokumentiert worden. 

Der Abschlußbericht hält in Ziffer 9.58 fest, daß das Polonium „entweder wahrscheinlich oder sogar zwingend aus Rußland“ stammen mußte. Und zwar vom russischen Atomgelände in der Jahrzehnte verbotenen Stadt Sarow, das als weltweit einzige kommerzielle Polonium-Produktion monatlich frische Vorräte herstellt. Lugowoj und Kowtun wußten offenbar nicht um die Natur des Gifts und hinterließen eine Spur der Kontaminierung. Dem „nuklearen Angriff auf den Straßen Londons“ (Owen) hätten Tausende zum Opfer fallen können.

Die Motive des Kremls, den Überläufer zu beseitigen, liegen auf der Hand. Es habe „zweifellos eine persönliche Dimension des Antagonismus“ zwischen Putin und Litwinenko gegeben, konstatierte Owen. Die Liste der Schwerstverbrechen, die Litwinenko in Büchern und Artikeln den Diensten KGB und FSB und ihren Auftraggebern im Kreml vorhielt, war lang: zentrale Planung und rigide Organisation des weltweiten, auch islamischen Terrorismus, namentlich die Ausbildung des heutigen Al-Qaida-Chefs al-Zawahiri in Dagestan 1997; Sprengstoffanschläge auf Hochhäuser in Rußland 1999; Aufbau der Mafia, Geldwäsche, Erpressung; den Mord an Anna Politkowskaja an Putins Geburtstag nur Wochen vor seiner eigenen Vergiftung legte Litwinenko dem Kreml-Herrn persönlich zur Last.