© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Ich blute, also bin ich
Krankheit und Zeitphänomen Ritzen: Kinder und Jugendliche mitten unter uns üben selbstverletzendes Verhalten aus
Heiko Urbanzyk

Annika aus Dortmund ist von Selbstverletzendem Verhalten  (SVV) Betroffene. Ihr Name ist geändert. Über die Ursachen ihrer Krankheit will sie der JUNGEN FREIHEIT keinesfalls etwas erzählen. Die 35jährige ist seit ihrem 15. Lebensjahr Borderlinerin und magersüchtig; eine klassische Kombination mit dem SVV. Wenn die Familienfeiern gemütlich werden, geht Annika heim. Ihren Freund, den sie seit der Jugendzeit kennt und mit dem sie seit zehn Jahren eine feste Beziehung führt, will sie weder heiraten, noch mit ihm zusammenziehen. Menschliche Nähe ist ihre tiefste Sehnsucht und größter Streßfaktor zugleich.

Zu Hause ritzt sich Annika mit Rasierklingen, die stets bereitliegen. „Der Schmerz zeigt mir, daß ich noch lebe und Empfindungen habe, die jeder Mensch gleich hat. Im Schmerz bin ich kein Sonderling.“ Im Gegensatz zu den meisten Betroffenen versteckt Annika ihre Narben nicht. „Wie auch?“ sagt sie. Ihre Arme sind ein einziger, von wulstig-roten Strichen durchzogener Anblick. Annika ist seit vielen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. „Das Ritzen ist weniger geworden. Ich kann mich unter Leuten bewegen. Mehr nicht.“ Wie reagiert das Umfeld, die Familie? „Ich werde akzeptiert. Meine Krankheit ist kein Gesprächsthema. Ich will nicht im Mittelpunkt stehen.“

Im Schmerz sich selbst   wieder spüren

Selbstverletzendes Verhalten nennt sich das Phänomen, zu dem laut der Selbsthilfeorganisation „Rote Linien“ auch Sich-selbst-Schlagen, Verbrennen, Knochenbrechen, Schlucken von Reinigungsmitteln und die Verhinderung von Wundheilung gehört. Sogar exzessiver Sport und Schlafverzicht können eine Ausprägung des SVV sein. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft die „Vorsätzliche Selbstbeschädigung auf nicht näher bezeichnete Art und Weise“ als Krankheit ein. Die Zahl der Betroffenen läßt sich nur grob schätzen.

Das „Ritzen“ als Form autoaggressiven Verhaltens soll in Deutschland aktuell 800.000 Menschen betreffen, vor allem junge Mädchen. Eine Statistik jedoch gibt es nicht. SVV ist Ausdruck hohen Leidensdrucks, der zumeist in völliger Einsamkeit mit der Rasierklinge und anderen scharfen Gegenständen gelindert werden soll.

„Rote Linien“ hatte eine eigene Umfrage gestartet, die nicht repräsentativ ist: Von knapp 1.900 Teilnehmern gaben 25 Prozent an, jünger als 13 Jahre zu sein. Weitere 65 Prozent waren 13 bis 17 Jahre alt. Danach wird es dünn. Ist SVV eine typische Pubertätserscheinung? Eine Rolle dürfte spielen, daß mehr als ein Drittel der Betroffenen länger als drei Jahre autoaggressiv sind, bevor sie eine Therapie überhaupt in Erwägung ziehen; weitere 20 Prozent warten zwei bis drei Jahre. Knapp 50 Prozent der Befragten gaben an, niemand wisse über das SVV Bescheid. Wer doch mit anderen darüber spricht, tut es keinesfalls mit Eltern oder Verwandten – Freunden und Fremden öffnen sich die meisten Selbstverletzerinnen am ehesten; 85 Prozent gaben an, weiblich zu sein. Diese Umfrage ähnelt den Ergebnissen einer Dauerumfrage der Selbsthilfegemeinschaft „Rote Tränen“ und anderen Medienberichten.

Als Auslöser des autoaggressiven Verhaltens kann vieles in Frage kommen; als Begleitsymptom bei einer Depression ebenso wie bei Magersucht oder einer sozialen Interaktionsstörung; auch Mobbing in der Schule oder häusliche Gewalt begegnen in diesem Zusammenhang als Faktoren. Meist sehen sich die Jugendlichen mit einer durch sie wahrgenommenen Überforderungs- oder Konfliktsituation konfrontiert, aus der sie mit untauglichen Mitteln einen Ausweg suchen. Ärzte nennen emotionale Verarmung im Sinne tief­empfundener Gefühle, nur oberflächliche Geborgenheit und mangelndes Hinhören auf die je eigene Individualität des Kindes als mögliche Gründe für solche extremen Hilferufe  junger Patienten. Trotz des Schmerzes hat das Ritzen ein hohes Suchtpotential, das subjektive Wohlbefinden bessert sich fast immer nur kurzfristig.

Soforthilfe, Therapie und Kulturtechniken zur Heilung

Die Anonymität des Internets scheint Betroffenen Mut zu geben, sich virtuell zu äußern. Selbsthilfe-Telefone und Chats gibt es wie Sand am Meer. Doch wer ist seriös? Wer kann wirklich helfen? Das ist nicht zu erkennen. Unter rund 70.000 Google-Einträgen zu „SVV Ritzen“ sind staatliche Stellen innerhalb weniger Minuten nicht zu finden. Schlechte Rahmenbedingungen für ein Kind, das nach innerem Kampf den „Druck“ verspürt und Soforthilfe benötigt – und sucht. „Rote Linien“ und „Rote Tränen“ raten allen Betroffenen, sich unverzüglich jemandem anzuvertrauen, dringend eine Therapie zu beginnen. Angehörige sollen das Thema nicht totschweigen, den Jugendlichen bei der Behandlungssuche helfen. Was sind Alternativen für SVV-Ritzer? „Rote Linien“ empfiehlt: Sport jeglicher Art, Spazierengehen, Hausarbeiten erledigen, ein Instrument erlernen und spielen, Freunde treffen, ein Buch lesen – all das, was Kinder und Jugendliche einst als selbstverständliche Kulturtechniken beherrschten, hindert und lindert den Selbstverstümmelungsdrang? Diese Ratschläge lassen das SVV als Problem in einem anderen Licht erscheinen.