© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Ideologie der Ideologiefreiheit
Hermann Moslers Märchen von der unpolitischen, praxisorientierten Völkerrechtslehre nacherzählt
Wolfgang Müller

Im Jahr 1924 schien die junge Weimarer Republik das Gröbste –  Aufstände, Putschversuche, Hyperinflation – hinter sich zu haben. Nun erinnerte sich vor allem die preußische Staatsregierung an ein Rezept, das schon einmal, unter napoleonischer Herrschaft, geholfen hatte: durch Geist wettmachen, was an äußerer Macht verlorengegangen war, um so den Wiederaufstieg zu organisieren.

Trotz der chronischen wirtschaftlichen Misere investierten Preußen und das Reich daher in Wissenschaft und Bildung. Eine Politik, der sich 1925 die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin verdankt. Untergebracht im – nach dem Auszug des kaiserlichen Hausherrn am 9. November 1918 – reichlich Platz bietenden Hohenzollern-Schloß, konzentrierte sich dort, gestützt auf eine der umfangreichsten Fachbibliotheken Europas, von der Reichsregierung in der nahen Wilhelmstraße dringend benötigtes völkerrechtliche Expertenwissen. 

Zum Gründungsdirektor wurde keine der namhaften, aber polarisierenden Koryphäen, weder der „Bellizist“ Erich Kaufmann noch der „Pazifist“ Walther Schücking, sondern der Berliner Extraordinarius Viktor Bruns (1884–1943) berufen. Bruns entstammte einer Gelehrtenfamilie, die bekannte Mediziner, Juristen und Theologen hervorbrachte. Mütterlicherseits bestand Verwandtschaft mit den Weizsäckers; der spätere Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, war sein Vetter, dessen Sohn Richard, der sechste Bundespräsident, sein Großneffe. Wie der Diplomat von Weizsäcker war der Völkerrechtler Bruns, der wie sein Vetter 1933 als deutschnationaler Patriot selbstverständlich im Amt blieb, mithin ein typischer Repräsentant der deutschen Funktionseliten.

Während des Zweiten Weltkrieges schränkten die angloamerikanischen Luftangriffe die KWI-Arbeit ein. Große Teile der Bibliothek wurden nach Süddeutschland verlagert, wo sich auch Bruns’ Nachfolger Carl Bilfinger zumeist aufhielt, der sich in Heidelberg sicherer fühlte, wo das KWI, umgetauft zum Max-Planck-Institut (MPI), heute noch residiert. Die personelle Kontinuität verkörperte in dieser Übergangszeit Bruns’ Referent Hermann Mosler (1912–2001), der das Institut von 1954 bis 1980 auch leitete. 

Mosler, außerhalb des Faches kaum wahrgenommen, bildete Generationen bundesdeutscher Völkerrechtler und Diplomaten aus und machte nebenher als erster Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes (1951–1953), als erster deutscher Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (1959–1976), und wiederum als erster deutscher Richter am Internationalen Gerichtshof (1976–1985), eine „beispiellose Karriere als Praktiker“. Seine wissenschaftliche Biographie drängte sich Felix Lange, einem Doktoranden in der Juristischen Fakultät der HU Berlin, daher geradezu auf, um über Systemzäsuren hinweg nach den Prägungen und Orientierungen der deutschen Völkerrechtswissenschaft zu fragen.

Völkerrechtslehre wird zur unpolitischen Sachlichkeit

Die These, die Lange in seiner aus dem Nachlaß schöpfenden Studie (Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Jahrgang 75/2015) dazu verficht, folgt jedoch weitgehend unkritisch Selbstdeutungen Moslers zur KWI-Geschichte und zu dessen Lebenswerk. Demnach sei das KWI 1925 gegründet worden, um „Tatsachenforschung“ zu treiben und „aktuelle Rechtsfragen“ jenseits von Politik und Weltanschauung zu lösen. 

Nach 1933 habe dann zwar der „deutsch-national denkende Bruns“ das KWI in den Dienst der Rechtfertigung „politischer Maßnahmen“ der Regierung Hitler gestellt sowie ab 1939 die Oberkommandos von Marine und Luftwaffe kriegsrechtlich beraten, aber vor allem Mosler, immerhin Referent für Besatzungsrecht in Belgien und Frankreich, habe den Geist des Hauses mit Gutachten „relativ unpolitischen Charakters“ wahren können, während sich das Gros der deutschen Völkerrechtler, Bilfinger und Carl Schmitt, Gustav Adolf Walz und Norbert Gürke, Ulrich Scheuner und Wilhelm G. Grewe, mit „politisch-polemischen Argumentationsgängen“ der NS-Ideologie näherte. 

In der Bonner Republik sei endlich dieser vom Partisanen Mosler gehütete Geist unpolitischer Sachlichkeit mitsamt seiner „praxisorientierten Methode“ erst richtig entfaltet worden und habe bis heute die bundesrepublikanische Völkerrechtslehre dominieren dürfen. Die Wendung „praxisorientierte Methode“ findet sich in Langes dreißigseitigen Ausführungen, niedrig geschätzt, wohl hundertmal. Nicht nur stilistisch eine Zumutung. Was der für einen Juristen verblüffend lax mit Begriffen hantierende Verfasser unter „praxisorientiert“ versteht, erläutert er hingegen nicht. Stattdessen ersetzt er das vieldeutige Kompositum mitunter durch „streng juristisch“, „positivistisch“, „rechtspraktisch“, „objektiv“. Das Gegenteil davon ist nicht etwa „unpraktisch“ oder „nicht praktisch orientiert“, da Lange dem Lager von Carl Schmitt, Walz et al. schwerlich bestreiten kann, in höchstem Maß praktisch verwertbare Arbeiten produziert zu haben. Praxisbezug ist also kein taugliches Unterscheidungskriterium, um die Eigenart der von Mosler überlieferten Fachtradition zu bestimmen. 

An einer einzigen Stelle erkennt selbst Lange, daß er mithilft, eine Legende zu stricken. Denn die „verschärfte Praxis-orientierung“ des KWI ergab sich 1925 natürlich aus einem „Zweck“, den Mosler „ein wenig“ unterschlagen habe: Für die zahlreichen Rechtsfragen des Versailler Friedensvertrags habe die Reichsregierung völkerrechtliche Expertise benötigt. Diese „politische Richtung“ wollte Mosler noch 1995 lieber verschweigen. Offenbar, um die von ihm entscheidend beeinflußte bundesdeutsche Völkerrechtslehre nicht mit diesem Erbe zu belasten. Doch „politisch“, wahlweise „politisiert“, „ideologisch“, „philosophisch“, „historisch-soziologisch“, folglich jede Form von Zusammenhang, in den rechtswissenschaftliche Praxis stets eingebunden ist, begreift auch Lange durchgehend als Gegenteil von „praxisorientiert“. Wie er sich dann aber, etwa im – von ihm indes vermiedenen – Rückblick auf die von Max Weber bis zum Positivismusstreit der 1960er führende methodologische Großkontroverse über die Möglichkeit „wertfreier Wissenschaft“, hier konkret: „streng juristischer“ Völkerrechtslehre, vorstellt, bleibt so unerklärlich wie das Wunder, daß dieser schlampige Text die Qualitätskontrolle der Redaktion einer renommierten Zeitschrift passieren konnte.

Lieber die Erörterung über Kernfragen vermeiden

Den Preis wenigstens, der allein schon für die Selbsttäuschung, „unpolitisch“ Völkerrecht traktieren zu können, zu zahlen ist, den hat Mosler wenigstens korrekt taxiert. Er besteht darin, die „Zwecke“ zu eliminieren und „jede grundsätzliche Erörterung über Kernfragen des Völkerrechts“ zu vermeiden. Dieses Credo entspricht dem Ethos des Positivismus, der Ideologie von der Ideologiefreiheit, der „philosophischen Technologie“ (Max Horkheimer). 

Wie der Waffentechniker nicht wissen muß, warum eine Rakete eingesetzt wird, um sie funktionstüchtig zu machen, muß sich Moslers idealer Völkerrechtler nicht um die weltanschaulichen, politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen seines Metiers kümmern. Mit der Konsequenz, daß sich diese Variante von „reiner Rechtslehre“ reflexionslos politisch funktionalisieren läßt. Dies haben jüngst Karl Albrecht Schachtschneiders bestechende Analysen über die Bemühungen willfähriger bundesdeutscher Völkerrechtler aufgezeigt (JF 43/15), den Begriff der Souveränität zur Delegitimierung des Nationalstaates und zur Legitimierung der „souveränitätswidrigen Währungsunion“ wie der nicht minder „souveränitätswidrigen Europäischen Union“ neu zu definieren. 

Foto: Wolfgang Mattheuer, Gruppenbild mit Fernblick, Öl auf Leinwand 1992: Die Variante des Völkerrechts als „reine Rechtslehre“ läßt sich reflexionslos politisch funktionalisieren