© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Dur klingt trauriger als Moll
Spurenleser: Der britische Tenor Ian Bostridge lehrt uns, in Schuberts „Winterreise“ zu wandern
Jens Knorr

Werktreue heißt, ein geschriebenes Stück so aufzuführen, wie es geschrieben steht – so liest und hört man allenthalben. Aber was steht da geschrieben und wie? „Das Schwarze sind die Noten, das Weiße ist das Papier“, knarzte ein verärgerter Otto Klemperer die Musiker seines Philharmonia Orchestra an. Ein E-Dur sei ein E-Dur sei ein E-Dur, wissen sich Daniel Barenboim und Christian Thielemann einig. Wer jedoch ein und dieselben Noten unter einem der beiden Dirigenten hört, die weiß Gott musikalisch keine Antipoden sind, der hört ein jeweils anderes E-Dur. Welches ist das richtige, welches das falsche?

Ein studierter Historiker und Philosoph, der über Hexerei und ihre Wandlungen zwischen 1650 und 1750 promoviert, aber bald schon eine akademische zugunsten einer künstlerischen Karriere aufgegeben hat, ist seit Jahrzehnten von einem Liederzyklus besessen. Darüber hat er ein Buch geschrieben, über die „Anatomy of an Obsession“, wie der englische Untertitel verheißt. Der Liederzyklus ist Franz Schuberts Opus 89, „Winterreise“, sein Autor ist Ian Bostridge, der englische Tenor.

„Ein so komplexes Stück wie die ‘Winterreise’ mit ihren vielfältigen Anklängen zu durchdringen, bedeutet, sich auf alle erdenklichen Weisen damit zu beschäftigen: zu verstehen, was sie uns heute sagen könnte, wie eine Flaschenpost, die 1828 in die Fluten des kulturellen Ozeans geworfen wurde.“ Wer verstehen will, darf Verstehen nicht mit Verständlichkeit identifizieren. An der Oberfläche scheint alles verständlich: Ein Wanderer wandert in zweimal zwölf Liedern unter treuer Klavierbegleitung, ansonsten aber einsam durch eine Winterlandschaft. Doch unter der Oberfläche brennt es heiß. Denn obschon Wilhelm Müller die Verse gedichtet hat und Franz Schubert die Musik komponiert, haben eine Vielzahl von Autoren an dem Zyklus mit- und Geschichte in ihn eingeschrieben.

 „Fremd“ hat im Deutschen viele Bedeutungen

Die Lieder nimmt Bostridge als 24 Plateaus, von denen ausgehend und zu denen immer wieder zurückkehrend er musikalische, soziologische, historische Zusammenhänge, kollektive Autorschaften freilegt und, zwangsläufig, aktuelle herstellt. Daß dabei verkrustete Schichten langjähriger, liebgewordener Aufführungsgeschichte – Mahler hat sie als „die Tradition von Schlamperei“ apostrophiert – zu durchdringen sind, macht die Arbeit des Interpreten schwierig.

Bostridge ist ein genauer Spurenleser. Er verwundert sich bereits über den Titel des ersten Liedes „Gute Nacht!“ Er verhält seine Schritte beim ersten gesungenen Wort, „fremd“, das im Deutschen so viele Bedeutungen hat, für die es im Englischen mehrere Wörter braucht. Er denkt über die Farben-Opposition von Weiß (Schnee, Eis, Reif, Winter) und Schwarz (Wetterfahne, Köhler, Krähe, Tod) nach, den „visuellen Kontrast (…), der die ganze Zeit über unbemerkt da ist während des Liederabends, Schwarz auf Weiß: die schwarzen und weißen Klaviertasten, das Schwarz des Flügels, der Sänger, entsprechend gekleidet im schwarzen Anzug mit weißem Hemd.“ Und immer die schwarzen Noten auf weißem Papier.

Nicht entgeht ihm, daß mitten im Winter an den Bäumen manches bunte Blatt zu sehen ist, ein Licht im Walzertakt freundlich vor dem Wanderer her tanzt, der in eines Köhlers engem Haus zwar Obdach, aber keine Ruhe findet. Bunt statt Schwarzweiß, Laubblatt oder Flugblatt? Der aktuelle, urbane Tanz als Begleitmusik zu einer Täuschungsszene? Köhler heißt im Italienischen Carbonari, und die Carbonari, Mitglieder des Geheimbundes gegen das Habsburger Regime, kamen in der Baracca zusammen, einer Baracke, einem Schuppen, einer engen Hütte. Des Köhlers Hütte ein Geheimtreff? Den „politischen Sog“, der von Müllers Gedichten ausgeht, findet Bostridge in Schuberts Vertonungen aufgehoben. Dabei weiß er die neuere Musikwissenschaft hinter sich, die das radikale politische Engagement des Schubert-Kreises ins rechte Licht gerückt hat.

Bostridge kennt die Literatur. Kaum eines der Standardwerke fehlt im Verzeichnis am Ende seines Buches. Schade nur, daß die grundlegende Müller-Werk-

ausgabe von 1994, die Maria-Verena Leistner 1994 bei Mathias Gatza, Berlin, herausgegeben hat und Friedrich Dieckmanns „Annäherung“ an Franz Schubert von 1996 seiner Aufmerksamkeit entgangen zu sein scheinen. Dafür erschließt er wichtige angelsächsische Literatur zu Müller, Schubert und der Romantik und sucht versteckte Stege, wo andere Wanderer noch nicht gegangen sind.

Einer dieser Stege führt vom „Griechen-Müller“ sowohl zu Lord Byrons Panhellenismus als auch zu dessen literarischer Methode der „Absence“ und des „Displacement“, die Schubert noch intensiviert, und zur „schwarzen Romantik“ sowieso, aus der sich im 19. Jahrhundert die Horrorliteratur entwickeln wird. Ihr Horror ist der des heraufkommenden Zeitalters, den der Komponist zwischen den Zeilen der Gedichte erfühlt und musikalisch erfüllt – weil er ihn erlebt hat. Die Art und Weise, wie Bostridge diesseits und jenseits des Kanals aufgehäuftes Wissen repetiert, ergänzt und neu montiert, erinnerte einige deutsche Rezensenten an eine „Wundertüte“ oder „Wunderkammer“; den Verfasser erinnert sie vielmehr an die von Deleuze und Guattari entwickelte Rhizomatik als ein vielsträngig verflochtenes Modell der Wissensorganisation.

In der kulturellen Substanz des deutschen Volkes

Bostridge kennt Interpreten und Interpretationen: Hans Hotter, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier und die verstörende Ausformung des Klavierparts durch Swjatoslaw Richter, ja, Bostridge kennt sogar das Arrangement für Drehleier von Matthias Loibner. Vor allem aber kennt er die Noten. Von ihnen geht er aus, zu ihnen kommt er zurück. Und worüber er auch schreibt, sei es über die Reihenfolge der Lieder, Tonartenverhältnisse, Probleme der Transposition, Lesarten – immer schreibt er für den Laien verständlich.

Wer das Ganze halten will, der muß es im Konkreten fassen. Auf Bostridges entschiedene Positionierung in dem berühmten Streit um die Triolenangleichung im Lied Nr. 6, „Wasserfluth“ hat Alfred Brendel in seiner Besprechung des Buchs für die New York Review of Books, verändert nachgedruckt im Hamburger „Zeit Literatur“-Magazin, Hamburg, vehement repliziert. Der Streit geht darum, daß Schubert eine Triolenfigur gegen eine Achtelpunktierung gesetzt hat. Führen Sänger und Pianist die Figuren aus, wie sie da stehen, polyrhythmisch also, entsteht der Eindruck eines Nachhinkens oder Nachklapperns der Sechzehntelnote, gleichen sie beide einander an, nicht. Hat nun die Sechzehntel nach der Triole zu kommen oder mit ihr zugleich? Was wie ein Streit um des Kaisers Bart erscheint, um mögliche oder unmögliche Lesarten von Autograph, Erstdruck und Nachdrucken, ist ein grundsätzlicher. Denn die Entscheidung darüber, ob Schubert noch in der alten „barocken“ Notation denkt oder schon in der „modernen“ des 19. Jahrhunderts, ist zugleich eine über das Bild von Schubert und Schuberts Gesellschaft, das eine Aufführung vermitteln wird. So kann die Gesamtkonzeption des Zyklus durchaus von einigen vertrackten Sechzehntel abhängen.

Der Leser hat, vielleicht ohne es zu bemerken, an der Arbeit des Interpreten teilgenommen. Er hat gelernt, warum dieselben schwarzen Noten auf weißem Papier zu unterschiedlichen Zeiten oder auch zu derselben Zeit ganz unterschiedlich erklingen müssen. Er hat viel über das Spannungsverhältnis zwischen Stoff, Sujet, Text und Notentext, Ausführenden und über sich selbst, den Hörer, erfahren und vermag es nicht nur besser auszuhalten, sondern als Voraussetzung des Kunsterlebens zu begreifen. Denn nicht an den Interpreten allein, sondern am Hörer selbst im Verein mit jenem und den andern Hörern ist es, die Flaschenpost zu öffnen und, neu versiegelt, zurück in die Fluten des kulturellen Ozeans zu werfen.

Ian Bostridge hat keines der vielen überflüssigen Sängerbücher geschrieben, sondern ein notwendiges, ein eminent politisches und übrigens auch witziges Buch, das einlöst, was die fehlenden Anführungszeichen im Titel anzeigen. Es verortet Schuberts „Winterreise“ in der kulturellen Substanz des deutschen Volkes und diese in der kulturellen Substanz Europas. Schuberts Wanderer ist noch lange nicht am Ende dieser seiner ganzen Reise, seine Winterreise geht weiter denn, nur weiter. „Verschiedene Interpreten, oder auch dieselben Interpreten in verschiedenen Aufführungen, werden zu unterschiedlichen Lösungen kommen und unterschiedliche Reisen unternehmen“, schreibt Bostridge. Was wir „das Kunstwerk“ nennen, sind diese Reisen.

Ian Bostridge: Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. C.H. Beck, München 2015, gebunden, 405 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro