© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Zeitschriftenkritik: Ruperto Carola
Die Dualität von Licht und Schatten
Werner Olles

Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Unter diesem Zitat aus dem ersten Akt von Goethes Drama „Götz von Berlichingen“ steht das Schwerpunktthema „Schatten und Licht“ der aktuellen Ausgabe (7/Dezember 2015) des zweimal jährlich erscheinenden Forschungsmagazins Ruperto Carola der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Licht ist nicht nur der Ursprung jeglichen Lebens, sondern greift tief in alle Bereiche unserer Existenz und damit auch der Wissenschaft ein. Dazu gehören ebenso wie die Licht- und Schattenseiten des deutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems auch lebensfeindliche Ökosysteme, in die kein Sonnenstrahl dringt, oder die schädigenden Auswirkungen des Sonnenlichts. Ob in der Biophysik, der Astrologie, der Religions- und Kunstgeschichte sowie in der Augenheilkunde, auf vielfältige Weise spielen Licht und Schatten, Hell und Dunkel eine bedeutende Rolle. 

So beschreibt der Religionswissenschaftler und Ritualforscher Gregor Ahn in seinem Beitrag „Polare Weltdeutungsmuster in der Religion“, daß diese bereits seit Jahrtausenden zu den kognitiven Grundstrukturen menschlichen Weltverstehens gehörten. Ob es um die Bewertung der Lebensumstände als gut oder schlecht, geordnet oder ungeordnet geht, um die Einteilung des Lebensrhythmus und der Alltagserfahrung in Tag und Nacht, Licht und Schatten oder um die Kategorisierung anderer Menschen als Freunde oder Feinde, Zivilisierte oder Barbaren – in all diesen Fällen dienen Antagonismen als entscheidende Parameter für die jeweilige Welt- und Lebensorientierung.

Ein gutes Beispiel für solch ein kulturspezifisches und zugleich höchst komplex angelegtes polares Weltdeutungsmuster ist die dualistische Gegenüberstellung von Engeln und Dämonen, von Lichtgestalten und Schattenwesen. Doch läßt sich insgesamt festhalten, daß die Dualität von Gut und Böse, Licht und Finsternis in der Religionsgeschichte sehr vielfältig ausfällt. Daher durchlief das Engel-Dämonen-Paradigma seit der christlichen Spätantike eine Entwicklungs- und Fortschreibungsgeschichte, die Hand in Hand ging mit der säkularisierenden Transformation der religiösen Engeldeutung und einer Einbeziehung der geschilderten Engelgestalten in die reale Welt. 

Wurden Engel oft literarisch gedeutet als Symbolfiguren der Sinn- und Orientierungssuche des in der Welt umherirrenden Menschen, so finden sich in der „dunklen Dichtung“ des Lyrikers Hölderlin nicht nur Phänomene der Wahrnehmung, sondern auf der semantischen Ebene deutliche Kontraste zwischen Licht und Schatten, auseinandergelegt in der Natur und der Kunst. Aber während in seinem Werk Licht und Schatten nicht vom Verständnis vereinnahmt werden können, so bestimmen in der Kunstgeschichte die Ästhetik von Licht und Schatten zum Beispiel, wie wir ein Gebäude wahrnehmen. So wußten schon die Baumeister der Antike, daß Architektur durch ihren Charakter ganz unmittelbar auf die Seele des Betrachters wirkt. 

Kontakt: Universität Heidelberg, Kommunikation und Marketing, Grabengasse 1, 69117 Heidelberg. 

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