© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Auf allen großen Bühnen zu Hause
Die Musik ist ihm in die Wiege gelegt worden: Dem Opernsänger Plácido Domingo zum 75. Geburtstag
Markus Brandstetter

Es gibt eine Dokumentation aus dem Jahr 2008 über den Tenor Plácido Domingo. Darin sieht man den Sänger nicht nur in Ausschnitten aus seinen Opernfilmen, sondern auch mit Frau und Kindern beim Abendessen, beim Tennisspielen auf seinem eigenen Platz hinter seinem Haus in Acapulco, und wie er mit der Partitur von Mozarts „Idomeneo“ am Swimmingpool liegt und eine Opernrolle lernt. Im Zuge dieses Films fragt der britische Regisseur Domingo auch nach seinen Eltern, seiner Kindheit und Jugend. Der Sänger beantwortet alle Fragen offen, ehrlich und nicht selten scherzend und lachend. Dabei sitzt Domingo die ganze Zeit am Flügel, spielt und singt dazu und erzählt von einem Vater, der zwar ursprünglich aus Madrid stammte, aber in den 1950er Jahren nach Mexiko kam, dort erst die Geige im Orchester spielte, dann aber entdeckte, daß er, wie Domingo charmant-untertreibend sagt, „herausfand, daß er eine Stimme habe“ („he found out he had a voice“). 

Diese kurze Passage sagt eine ganze Menge über Domingo aus: Ihm wurde die Musik in die Wiege gelegt, denn er ist das Kind zweier Musiker. Sein Vater und seine Mutter sangen erfolgreich in spanischen Operetten, die man Zarzuelas nennt. Domingo selber kann nicht nur gut Klavier spielen und dazu charmant und warmherzig in einem sehr geläufigen Englisch plaudern, nein, er hat auch noch die halbe Operetten- und Opernliteratur im Kopf und kann sie vor laufenden Kameras auf Knopfdruck abrufen.

Plácido Domingo ist ganz offensichtlich ein Multitalent, weshalb es eine Zeitlang dauerte, bis klar war, daß er Sänger werden würde. Denn zuerst einmal hat der im Januar 1941 in Madrid geborene Domingo am Konservatorium von Mexiko-Stadt Klavier und Dirigieren studiert. Das Singen hat er von seinen Eltern gelernt, und am Anfang war das ein reiner Zeitvertreib, denn Domingo wollte eigentlich Dirigent werden. 1958 sang er aus Jux als Bariton an der Mexikanischen Oper vor, wurde dann aber als Tenor engagiert, weil er inzwischen den oberen Registerbereich der Stimme ausgebaut hatte.

Mehr Opernrollen gesungen als Caruso

Dieser Spagat zwischen Bariton und Tenor sagt viel über Domingos Stimme aus. Im Gegensatz zu Luciano Pavarotti und José Carreras, zeitweise seinen größten Konkurrenten unter den Tenören, war Domingo nie ein lyrischer Tenor, der über eine hohe, agile und geschmeidige Stimme verfügt, sondern ein italienischer Heldentenor mit einer kräftigen, dunklen, fast baritonalen Stimme, die sich an Kraft und Timbre – wenn auch nicht der mühelosen Höhe – einzig mit derjenigen Enrico Carusos vergleichen läßt. 

Domingos bescheidener Anfang an der Mexikanischen Oper war der Beginn einer Weltkarriere, die ihn an alle großen Opernhäuser der Welt führte und ihn zu einem der bekanntesten und meistbeschäftigten Sänger der Welt machte. Domingo steht seit 55 Jahren auf der Bühne. In dieser Zeit hat er etwa 3.700 Vorstellungen gegeben, 130 Opernrollen gesungen und rund einhundert Opern komplett auf Schallplatte aufgenommen, von zahllosen Opern-Ausschnitten, Arien und populären Liedern gar nicht zu reden. Das sind Zahlen, die so schnell kein anderer Sänger erreichen wird. Luciano Pavarotti, der sein Debüt im selben Jahr wie Domingo gegeben hat, 1961, ist sein Leben lang mit zwanzig Opernpartien ausgekommen, und selbst Caruso hat „nur“ siebenundsechzig geschafft, was aber zu seiner Lebenszeit schon als ganz außergewöhnlich galt. 

Trotz dieser Arbeits- und Schaffensfreude und dem andauernden Hetzen um die Welt, was jeden anderen Sänger mit 50 Lenzen verschlissen hätte, hat Plácido Domingo eine Handvoll von Opernaufnahmen gemacht, die man zu den besten des 20. Jahrhunderts zählen wird.

Ganz oben auf dieser Liste steht Verdis „La Traviata“, die Domingo 1976 und 1977 noch im alten Münchner Bürgerbräukeller, wo schon Fritz Wunderlich gern aufgenommen hat, unter der Leitung des legendären Dirigenten Carlos Kleiber auf Platte eingespielt hat. Das ist wahrscheinlich die beste Traviata aller Zeiten: präzise, genau, mit einem Orchester, das immer auf den Schlag kommt, mit einer ephemeren, überirdisch zarten, glockenreinen Violetta (Ileana Cotrubas) und einem nobel-warmen Germont Père (Sherill Milnes) – eine Aufnahme, die auch nach vierzig Jahren nichts von ihrem Feuer, ihrer Leidenschaft und der außerordentlichen Musikalität eingebüßt hat, die alle Kleiber-Aufnahmen auszeichnet. Domingo war stimmlich nie besser: Das Trinklied wird zu einem furiosen Schnellwalzer, und die große Arie des Alfredo („Lunge da lei per me non v‘ha diletto.“ – „Fort von ihr gibt‘s kein Glück für mich.“) ist einmal nicht ein in tausend Wunschkonzerten totgesungener Opernschlager, sondern ein ebenso feuriges wie verzweifeltes Liebesbekenntnis. 

Er erarbeitete sich schwerste Wagner-Opern

Und so geht es in Domingos Diskographie weiter. Plácido Domingo ist der beste Don José in „Carmen“ und der mit Abstand größte Othello seiner Generation. Er singt aber auch, obwohl das überhaupt nicht sein Fach ist, einen hellen, frischen, jugendlichen Nemorino in Donizettis „Liebestrank“, einen ernsten, würdigen Samson in Camille Saint-Saëns zu wenig bekanntem „Samson et Dalila“ und – einen erstaunlich guten Lohengrin. 

Das war eine der großen Überraschungen in Domingos Karriere – daß er in der Lage war, sich einige der größten und schwersten Tenorrollen aus Wagner-Opern zu erarbeiten. Und das auch noch auf deutsch. Der Mexikaner hat neben dem Lohengrin unter George Solti auch noch Tannhäuser, Walther von Stolzing in den „Meistersingern“ und sogar den Tristan gemeistert. Kritikern seines spanisch eingefärbten Deutschs gab er zur Antwort, daß Lohengrins mythische Gralsritterburg Montsalvage ja näher bei Madrid als Berlin läge.

Einem großen, ja weltweiten Publikum bekannt wurde Plácido Domingo aber nicht als Sänger großer Opernrollen, sondern als Mitglied der „Drei Tenöre“, die neben ihm noch aus José Carreras und Luciano Pavarotti bestanden. Zwischen 1990 und 2003 traten sie in Sportstadien auf der ganzen Welt auf, verkauften 25 Millionen Schallplatten und boten einer Milliarde Menschen wenn schon nicht große klassische Musik, so doch einen Mix aus weltberühmten Opernarien und populären italienischen und spanischen Tenorliedern dar.

Neben seiner Laufbahn als Sänger hat Plácido Domingo von 1996 bis 2011 als Generaldirektor auch die Washington National Opera in der amerikanischen Hauptstadt geleitet und seit 2001 dasselbe am Opernhaus in Los Angeles getan. Dafür hat der Sänger reichlich Kritik geerntet. So wurde ihm vorgeworfen, am finanziellen Kollaps der Washingtoner Oper schuld zu sein – und auch seine sängerischen Leistungen stehen seit einigen Jahren in der Kritik, insbesondere seit er in das Baritonfach zurückgekehrt ist.

Wo viel Licht, da ist auch viel Schatten, heißt es, aber bei Plácido Domingo, der am 21. Januar 75 Jahre alt wird, überwiegt das Licht die wenigen Schattenstreifen bei weitem. 

Foto: Plácido Domingo: Spagat zwischen Bariton und Tenor