© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Es herrscht ein Klima der Angst
Türkei: Der blutige Anschlag unweit der Blauen Moschee ist kein Einzelfall / Erdogans Kampf an allen Fronten
Marc Zoellner

Es sollte ihr letzter Flug zurück in die Heimat werden: Punkt siebzehn Uhr Ortszeit landete vergangenen Samstag ein Transportflugzeug der Luftwaffe im militärischen Bereich des Berliner Flughafens Tegel. Trauernd warteten bereits Freunde und Angehörige auf die Särge der zehn Toten. Jener zehn Deutschen, die nur wenige Tage zuvor von dem mutmaßlich mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisierenden Selbstmordattentäter Nabil Fadli unweit der Istanbuler Blauen Moschee durch eine Sprengladung ermordet worden waren.

Fassungslosigkeit beherrscht seitdem die Stimmung der Bevölkerung der 14-Millionen-Metropole am Bosporus. In Anlehnung an den Terroranschlag auf das französische Satireblatt Charlie Hebdo vor beinahe genau einem Jahr bekundeten Tausende türkische Bürger mit „Je suis Istanbul“-Bildern ihre Solidarität mit den deutschen Opfern in den sozialen Netzwerken. 

Oppositionelle werden reihenweise verhaftet

Die Habertürk, eine der größten Zeitungen des Landes, titelte gar auf deutsch: „Im Herzen bei Euch“. Das Blutbad an den deutschen Touristen nahe der Blauen Moschee, kommentieren Journalisten, traf einen Lebensnerv der türkischen Nation mit nahezu tödlicher Präzision. Die Türkei, so wurde vergangene Woche erneut überdeutlich, ist längst nicht mehr das sichere Urlaubs- und Reiseland, als welches es noch vor wenigen Jahren galt.

Kein Tag vergeht in Kleinasien ohne neue Explosionen, ohne Nachrichten von Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Den kurdisch besiedelten Osten halten bürgerkriegsähnliche Zustände im Würgegriff. Über die streckenweise offene Grenze zum südlichen Nachbarn Syrien retteten sich nicht nur bislang weit über 2,2 Millionen Flüchtlinge. Auch IS-Kämpfer infiltrieren von dort systematisch das Land, bilden Schläferzellen in den großen Städten und bedrohen, wie jetzt in Istanbul, die Türkei in ihrer blanken wirtschaftlichen Existenz.

Zu guter Letzt machen Verhaftungswellen gegen Oppositionelle, gegen Wissenschaftler, Journalisten und HDP-Politiker von sich reden. Die Furcht sitzt tief, daß der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan das innere Chaos, in welche die Türkei zu versinken droht, dazu nutzen könnte, das Land auch am Parlament vorbei zum Präsidialregime umzubauen.

„Im Land herrscht ein Klima der Angst und der Einschüchterung“, bestätigte vergangene Woche auch Iren Meier dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Die Journalistin gilt als profunde Kennerin der innertürkischen Verhältnisse und diente zuletzt fast ein Jahrzehnt als Nahostkorrespondentin des Schweizer Nachrichtensenders. „Das zeigt sich etwa darin, daß die prokurdische Partei HDP kriminalisiert wird oder daß Erdogan in den vergangenen drei Monaten persönlich 93 Personen verklagt hat, weil sie ihn beleidigt haben sollen.“

Gerade das zwiespältige Verhältnis zur kurdischen Minderheit sowie der aggressive Feldzug des türkischen Militärs gegen die Extremisten der PKK wirft tiefe Gräben zwischen Erdogans konservativer AKP-Führung einerseits und einem Gros der Intellektuellen des Landes auf der anderen Seite auf. So hatten über eintausend türkische Akademiker vergangene Woche der Regierung einen Protestbrief eingereicht, in welchem dieser unter anderem eine antikurdische „Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“ vorgeworfen worden war. Nur kurze Zeit später folgten mehrere Razzien im universitären und privaten Bereich als Antwort sowie rund drei Dutzend Verhaftungen von Unterzeichnern; vorrangig mit der Begründung der „Propaganda für eine Terrororganisation“. Höchstpersönlich nutzte Präsident  Erdogan fast die komplette Sendezeit seiner halbstündigen Fernsehansprache, um gegen die Signatoren mit scharfer Rabulistik zu Felde zu ziehen. Den Opfern des Terroranschlags von Istanbul räumte er hingegen gerade einmal eine einzige Minute ein.

Barrikadenkämpfe in Südostanatolien

„Erdogan ist weit von jenen Tagen abgefallen, in welchen er noch als geachtetes Oberhaupt angesehen worden ist“, kommentierte auch die New York Times. „Statt den Krieg zu beenden und die Kurden komplett in die Politik der Türkei zu integrieren, bewegt er sich in die gegenteilige Richtung und radikalisiert dabei immer mehr Menschen in ihrer Anschauung, daß Gewalt der einzige Weg ist, um mehr Autonomie zu erlangen.“

Seine militärischen Erfolge scheinen den türkischen Präsidenten mit Blindheit gegen kritische Stimmen zu schlagen. Dabei streitet kaum jemand im Land die tatsächlich gegebene Legitimation der Kriegsführung gegen die PKK ab, welche selbst innerhalb der kurdischen Gemeinden nur noch auf bedingte Sympathien stößt. Die Zivilgesellschaft ist den mittlerweile dreißig Jahre währenden Krieg, der seit der Aufkündigung der Waffenruhe durch die Separatisten im Sommer 2015 über 3.100 kurdische Extremisten sowie rund 200 türkische Soldaten und Polizisten das Leben kostete, ohnehin leid. Als eine Autobombe der linksextremen Terrorgruppe vergangenen Samstag drei Kinder tötete, eilte diese zum medialen Canossagang und bekundete mehrfach ihre „Bemühungen, keine Zivilisten zu verletzen“.

Gleichwohl wurde das Bomben selbst nicht eingestellt. Noch am selben Abend lieferten sich mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnete Separatisten in den südostanatolischen Städten Cizre und Diyarbakir schwere Barrikadenkämpfe mit den Sicherheitskräften, wobei über 20 Menschen ums Leben kamen. Im angrenzenden S?rnak riß diesen Montag eine Antipanzermine der PKK drei Polizisten in den Tod. Zeitgleich stürmten bewaffnete Anhänger der Organisation eine Polizeistation im zentralanatolischen Yenimahalle.

Daß Gewalt als alleinige Antwort auf den innerstädtischen Terrorismus gerade in der Kurdenfrage keine Lösung darstellt, hingegen der türkische Staat auch dringend des Dialogs mit den gemäßigten politischen Kräften der größten ethnischen Minderheit des Landes bedarf, beweisen die anhaltenden Gefechte hinlänglich. 

Die PKK sowie die ihr verwandten Aufständischen in Syrien und im Irak stehen zwischen dem Islamischen Staat und der türkischen Armee mit dem Rücken zur Wand. Die kriegerische Auseinandersetzung mit einer diskurs-unfähigen AKP-Regierung ist für sie geradezu existentiell. Wolle Erdogan die wirtschaftliche Prosperität der Türkei, welche maßgeblich auch als sein eigener Erfolg als damaliger Regierungschef gilt, nicht aufs Spiel setzen, konstatiert auch Iren Meier, täte er gut daran, „seinen Fokus außenpolitisch auf die Bekämpfung des IS zu richten und innenpolitisch zu versuchen, das Land zu befrieden“.