© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Ein Problem namens Merkel
Asylkrise I: Der erneut wachsende Unmut in der Union über den Kurs der Kanzlerin bleibt bislang folgenlos
Paul Rosen

Wieder einmal ist ein Aufstand von Parteifreunden gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel in sich zusammengefallen, ehe er richtig begonnen hatte. Eine Gruppe von Abgeordneten, die ursprünglich einen Antrag gegen Merkels Flüchtlingspolitik in die Unionsfraktion einbringen wollte, zog das Papier wieder zurück und einigte sich, einen vertraulichen Brief an die Kanzlerin zu schicken. Ehe Boten ihn ins Kanzleramt gebracht hatten, war der Inhalt schon in den Medien: Angesichts der Entwicklung, schreiben die Abgeordneten, würden die Zweifel wachsen, „ob wir tatsächlich ‘das’ schaffen können, was wir im Interesse unseres Landes – und aller Flüchtlinge – unbedingt schaffen müßten“, hatte die Gruppe um die Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann und Christian von Stetten formuliert. Merkel dürfte den Brief der Amateur-Revolutionäre nicht mehr beantworten, vermutlich nicht einmal lesen. 

Dafür gibt es Druck auf die innerparteiliche Opposition. Der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder griff in der CDU-Präsidiumssitzung Kritiker scharf an – besonders den Parlamentarischen Staatssekretär Jens Spahn, weil der als Regierungsmitglied von „Staatsversagen“ gesprochen hatte. Kauder verlangte, Merkel mehr Zeit für die Reduzierung der Flüchtlingszahlen zu geben. Dieses Ziel hat sich die Kanzlerin auf die Fahnen geschrieben und ist damit auch mit der SPD einig. Nur eine Abkehr von der „Wir schaffen das“-Politik und dem Prinzip der offenen Grenzen soll es nicht geben. Nachdem Skandinavien dichtgemacht hat, versucht Merkel jetzt, Österreich zu einer weitgehenden Schließung seiner Südgrenzen für Flüchtlinge zu bringen. Damit will sie eine Art Cordon sanitaire einrichten und könnte behaupten, an der Politik der offenen Grenzen nichts geändert zu haben. 

Ob Merkel die Zeit noch hat, ist mehr als fraglich. Es ist ein alter Grundsatz der Politik, daß die Abgeordneten bei der Fahne bleiben, solange Führungen Abgeordnetenmandate und Regierungsposten sichern beziehungsweise erlangen können. Bisher bestand Grund zur Annahme, daß dank der AfD bei den Landtagswahlen im März Rot-Grün in Rheinland-Pfalz und Grün-Rot in Baden-Württemberg keine Mehrheit mehr bekommen und eine Regierungsbildung gegen die starke CDU nicht möglich ist. Jetzt gerät die Union in den Umfragen stark ins Rutschen; vor allem Merkels Popularität rauscht in den Keller. Ihr Kritiker Wolfgang Bosbach ist weitaus beliebter, und an Finanzminister Wolfgang Schäuble reicht ohnehin niemand heran. Da die bundesweiten Werte für die CDU unter 37 Prozent fallen, besteht in beiden Ländern die Gefahr, daß Rot-Grün beziehungsweise Grün-Rot notfalls mit Hilfe einer wieder in die Parlamente einziehenden FDP weiterregieren könnte. Oder es könnten nach thüringischem Vorbild rot-rot-grüne Bündnisse oder Tolerierungen gebildet werden, falls die Linkspartei in die Landtage einziehen sollte. 

Die CDU ist daher hochgradig nervös. Das zeigte sich nach einem Vorschlag von Schäuble, der als Stich gegen Merkel den Vorschlag machte, eine europaweite Benzinsteuer zur Finanzierung der Flüchtlingskosten einzuführen. Wutentbrannt verlangte die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Julia Klöckner, die den Wahlsieg schon zum Greifen nah sah, von Merkel, Schäuble zurückzupfeifen („Einfach mal die Klappe halten“). 

Noch haben die Regierenden in Berlin die Dramatik der Ereignisse in der Silvesternacht in Köln und anderswo nicht vollständig begriffen, auch wenn Innenminister Thomas de Maiziére (CDU) zugibt, die Migration Hunderttausender habe offenbar auch eine „dunkle Seite“. Einige Beobachter erwarten zwar eine „Blitzwende“ der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik wie beim Atomausstieg nach Fukushima, aber die damit zwangsläufig verbundene innenpolitische Polarisierung widerspricht Merkels Wesen und würde die Union in Schwierigkeiten bringen, da sie nur linke Bündnispartner hat, die eine solche Wende – anders als beim Atomausstieg – nicht mitmachen würden. 

Voraussagen über mehrere Wochen hinweg sind in der augenblicklichen angespannten Lage unmöglich. So wie die sexuellen Übergriffe in dem Ausmaß nicht vorherzusehen waren, wird auch der weitere Lauf der Dinge eher anarchisch sein. 

„Du machst Europa kaputt“

Die Auflösungserscheinungen staatlicher Strukturen sind unübersehbar. Verfassungsrechtler werfen der Regierung Verstöße gegen das Grundgesetz und andere Gesetze in Serie vor (Seite 12). Und was wird, wenn es einen Terroranschlag geben sollte? 

Noch gibt es Durchhalteparolen wie vom stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Armin Laschet, der es gut findet, daß Merkel „diesen Kurs auch einmal durchhält, ihn immer wieder präzisiert“. Aber die mahnenden Stimmen werden lauter, auch beim Koalitionspartner. So fordert Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD): „Die Bundeskanzlerin wird sich im Laufe des Jahres korrigieren müssen.“ Und der frühere CSU-Chef Edmund Stoiber hat seine Partei hinter sich, wenn er sagt, ohne eine Kursänderung „wird sich nach den Wahlen im März eine Auseinandersetzung (mit Merkel) nicht vermeiden lassen“.

Bei der CSU-Klausur in Wildbad Kreuth ging Stoiber Merkel direkt an: „Du machst Europa kaputt.“ Damit ist die Dimension beschrieben, die auch  Schäuble erkannt hat; dem Finanzminister werden bereits Umsturzambitionen nachgesagt. Sollte es tatsächlich eine wie auch immer aussehende Beruhigung der Migrationsproblematik geben, bleibt doch sonst alles so verkorkst, wie es ist. Soll die Euro-Rettung dann alternativlos weitergehen? Soll Deutschland weiter als einziges Land in Europa eine Energiewende betreiben? Wollen deutsche Politiker weiter die östlichen Nachbarn mit verbalen Unflätigkeiten überhäufen? 

Das Problem Deutschlands hat einen Namen: Angela Merkel.