© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Pränataldiagnostik
Zeitgeistige Selektion
Paul Cullen

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So heißt es in Artikel 1, Satz 1, des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Das Selbstbewußtsein … eines Menschen bildet sich zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr… . Ein Embryo/Fötus befindet sich in einem Zustand der Dämmerung, etwa vergleichbar mit dem unbewußten Gefühlsleben einer Pflanze. Er verfügt also … über keine … Persönlichkeitsstruktur … die ihn einmalig machen würde. Er ist kein Individuum und befindet sich im besten Falle auf der evolutionären Stufe einer Kaulquappe, auch wenn er – rein ontologisch betrachtet – aufgrund seines potentiellen Menschseins der Kategorie ‘Mensch’ zugeordnet werden muß.“ Das klärte Asja Huberty (damals 22 Jahre alt), Mitglied im Landesvorstand der Linkspartei Schleswig-Holstein und Abgeordnete in der Lübecker Bürgerschaft während der Debatte um Spätabtreibung 2010. 

Dürfen wir durch Verbote eine Diagnostik und Therapie verhindern, die nicht nur die Sterblichkeit rund um die Geburt senken, sondern das Überleben sichern hilft? Trifft es zu, wie manche Ärzte meinen, daß die Zahl der Abtreibungen durch solche Abtreibungen, die nach einer schlimmen Diagnose vorgenommen werden, nicht maßgeblich beeinflußt wird? Das Wort Diagnostik stammt vom altgriechischen dia-gnosis und hat die doppelte Bedeutung erkennen/unterscheiden. In der Medizin bedeutet es den Prozeß, mittels dessen eine krankhafte Störung im ersten Schritt erkannt (zum Beispiel eine Störung der Leberfunktion) und im zweiten Schritt identifiziert (zum Beispiel primäre biliäre Zirrhose) wird. Diagnostik ist kein Selbstzweck und dient auch nicht primär der Dokumentation von Krankheiten, sondern hat die Funktion, eine Grundlage für eine gezielte Behandlung zu legen. Ist die Diagnose richtig gestellt, ergibt sich die Therapie oft fast von alleine.

Diese Funktion der Diagnostik gilt selbstverständlich auch bei ungeborenen Menschen. Steht eine schwangere Frau in der Arztpraxis, haben wir es nämlich nicht mit einem Menschen zu tun, sondern mit zwei, bei Mehrlingsschwangerschaften sogar mit mehr als zweien. Die Konfusion (und die „Kontroverse“) in der vorgeburtlichen Diagnostik liegt also nicht im Wesen dieser Diagnostik, sondern in der teilweise unbewußten, teilweise bewußten und leider teilweise ideologisch forcierten Verdrängung dieser Tatsache. Daß wir alle instinktiv die Wahrheit wissen, sickert dennoch manchmal durch, etwa bei Reportagen über Unfälle oder Havarien, wo der Tod einer schwangeren Frau (zu Recht) immer als besonders tragisch berichtet wird.

An dieser Stelle ist es notwendig, die Begriffe „Mensch“ und „Person“ genauer zu analysieren. Im Gegensatz zu „Mensch“ ist „Person“ kein generischer Begriff, sondern setzt die vorherige Identifikation eines Wesens als Mensch voraus. Die Verwendung des Begriffs „Person“ ist gleichbedeutend mit einem Akt der Anerkennung bestimmter Verpflichtungen gegen denjenigen, den man so bezeichnet. Das Hauptmerkmal des Personseins ist die Unantastbarkeit, und das fundamentalste aller Personenrechte das Recht auf Leben. Diese Aussagen treffen auf alle Personen zu. Dieses Prinzip wird auch von der deutschen Rechtsprechung akzeptiert und findet im ersten Artikel des Grundgesetzes Ausdruck.

Rein biologisch gesehen ist das Leben ein nahtloses Kontinuum von der Zeugung bis zum Tod. Es ist unmöglich zu sagen, ab jetzt gibt es Kognition, ab jetzt ist das Kind sich seiner selbst bewußt. Alle Grenzen, die gesetzt werden, sind rein willkürlicher Natur.

Bei einigen Prozeduren vor der Geburt, und insbesondere bei der Abtreibung, wird aber davon ausgegangen, daß es sich bei ungeborenen Menschen nicht um Personen handelt, sondern um etwas anderes, was weniger wert ist. Diese Einstellung wird in einer bemerkenswert kalten, dafür aber schonungslos klaren Form in den zitierten Bemerkungen der Abgeordneten Huberty sichtbar.

Eine solche Trennung der Begriffe „Mensch“ und „Person“ steht im Einklang mit der derzeit herrschenden utilitaristischen und durchökonomisierten Weltsicht, führt aber nach dem Philosophen Robert Spaemann dazu, daß „der Personenbegriff plötzlich eine Schlüsselrolle bei der Destruktion des Gedankens [spielt], Menschen hätten, weil sie Menschen sind, gegenüber ihresgleichen so etwas wie Rechte. Nicht als Menschen sollen Menschen Rechte haben, sondern nur, soweit sie Personen sind. Nicht alle Menschen, und nicht Menschen in jeder Phase ihres Lebens und in jeder Verfassung ihres Bewußtseins sind, so wird uns gesagt, Personen (in: „Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas’ und ‘jemand’“).

Eigenschaften von Menschen wie (Selbst-)Bewußtsein und Rationalität versetzen sie in die Lage, aus sich herauszutreten und von „Ich“ zu sprechen. Aber eine Person ist nicht eine Person aufgrund dieser Eigenschaften. Spae­mann wieder: „Personenrechte sind überhaupt nur unbedingte Rechte, wenn sie nicht von der Erfüllung irgendwelcher qualitativer Bedingungen abhängig gemacht werden, über deren Vorliegen jene entscheiden, die bereits Mitglieder der Rechtsgemeinschaft sind.“

Diese Position hat große Ähnlichkeiten mit der von Immanuel Kant, nach der jeder Mensch als Person, das heißt als Zweck an sich selbst und niemals bloß als Mittel zum Zweck zu sehen ist. „Person ist kein Artbegriff“, sagt Spaemann, „sondern die Weise, wie Individuen der Art ‘Mensch’ sind.“ Die Rechte einer Person werden also nicht von anderen zuerkannt, sondern von jedem mit gleichem Recht in Anspruch genommen. Das Sein der Person ist das Leben eines Menschen, denn nach Spaemann und Kant ist die Person der Mensch, und zwar in allen Phasen des Lebens.

Menschen werden gezeugt, nicht gemacht. Der gezeugte Mensch ist „anvertrauter Selbststand“ (Eduard Zwierlein), kein zu verwaltendes Produkt und erst recht keine Ware mit einem Preis. Die Tötung eines ungeborenen Menschen ist nur zulässig, wenn man annimmt, daß Menschen bis zur natürlichen Geburt keine Menschen im Sinne des Grundgesetzes, also keine Personen sind. Dabei stellt sich selbst in dieser Sicht der Dinge die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Personsein einsetzt. Rein biologisch gesehen ist das Leben ein nahtloses Kontinuum von der Zeugung bis zum Tod. Es ist unmöglich zu sagen, ab jetzt gibt es Kognition, ab jetzt ist das Kind sich seiner selbst bewußt. Alle Grenzen, die gesetzt werden, sind rein willkürlicher Natur.

Selbst bei Vertretern anderer Positionen müßte der Grundsatz „in dubio pro reo“ gelten und diejenigen, die davon ausgehen, daß qualitative Unterschiede in bezug auf wichtige Merkmale des Personseins in verschiedenen Lebensabschnitten existieren, müßte zu bedenken geben, daß die Grenzen dieser Abschnitte nicht definierbar sind. Wir entwickeln uns also nicht zu Personen, sondern als Personen. Jede Potentialität ist im Sein des sich entwickelnden Kindes begründet. Jeder Mensch ist an sich wertvoll als das, was er ist, und nicht bloß als das, was er einmal werden könnte.

Bei der Frage nach der vorgeburtlichen „Diagnostik“ ist grundsätzlich nach zwei Fällen zu unterscheiden: Im ersten Fall wird auf Merkmale des ungeborenen Kindes untersucht, die zu beheben oder zumindest zu lindern sind. Hierzu gehört die Feststellung einer Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Kind, die mittels einer Bluttransfusion des Kindes noch in der Gebärmutter behandelt wird, oder die Identifizierung eines angeborenen Herzfehlers mittels vorgeburtlicher Ultraschalluntersuchung, bei dem die Geburt in einer besonderen Klinik erfolgen und das Kind direkt nach der Entbindung von Spezialisten versorgt werden kann. Bei solchen Fällen handelt es sich um eine Diagnostik im eigentlichen Sinn, die, wie einleitend beschrieben, die Grundlage für eine gezielte Behandlung legt. Diese Art der pränatalen Diagnostik ist nicht nur erlaubt, sondern ethisch und moralisch verpflichtend. Diese bei Risikoschwangerschaften zu unterlassen, gilt als Kunstfehler.

Schon heute werden über 95 Prozent aller Kinder  mit Down-Syndrom abgetrieben, und mit neueren treffsichereren und wenig belastenden genetischen Bluttests wird dieser Anteil in Zukunft noch höher steigen. 

Im zweiten Fall geht es um etwas ganz anderes. Obwohl auch hier in der Regel der Begriff „Diagnostik“ verwendet wird, geht es nicht um die Feststellung eines Krankheitszustands als Grundlage für eine gezielte Behandlung, sondern um die Konstatierung eines „Qualitätsmangels“, bei dessen Vorliegen in aller Regel die Entscheidung gefällt wird, das Kind abzutreiben, es also gezielt zu töten. Ein Beispiel ist die Feststellung eines Down-Syndroms.

Schon heute werden über 95 Prozent aller Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben, und mit neueren treffsichereren und wenig belastenden genetischen Bluttests wird dieser Anteil in Zukunft noch höher steigen. In Deutschland gilt das Vorliegen eines Down-Syndroms sogar als Indikation für eine sogenannte Spätabtreibung, das heißt bis unmittelbar vor der natürlichen Geburt. Die Hersteller der Testverfahren auf Down-Syndrom und nicht wenige Ärzte argumentieren, daß nach einem auffälligen Testergebnis das betroffene Kind nicht zwingend abgetrieben werden muß, und daß das Ergebnis den Eltern helfen kann, mit der Situation fertig zu werden. Dies mag im Einzelfall stimmen, doch in aller Regel ist dies nicht die Motivation für die Untersuchung. Eine Behandlung für das Down-Syndrom gibt es weder, noch ist eine in Sicht. Wir haben es in solchen Fällen also nicht mit Diagnostik zu tun, sondern mit Selektion. Das Ziel ist nicht Heilung, auch nicht Linderung, sondern Qualitätskontrolle und Aussonderung des „Mangelhaften“.

Beim Down-Syndrom wird es auch nicht enden. Schon in wenigen Jahren werden Methoden verfügbar sein, mit denen sich Mutationen in einzelnen Genen feststellen lassen werden. Dadurch werden nicht nur Erbkrankheiten wie Mukoviszidose oder Muskeldystrophie feststellbar sein, sondern auch die genetische Prädisposition für Krankheiten oder Krankheitsrisiken, die sich erst im Erwachsenenleben manifestieren, wie die neurologische Erkrankung Morbus Huntington oder hereditärer Brustkrebs.

Selbst die Frauenärztinnen der „Arbeitsgemeinschaft Frauengesundheit“, die für das Recht [einer Frau], eine Schwangerschaft abzubrechen, deren Austragen sie körperlich oder seelisch überfordert“, eintreten, sind über diese Entwicklung besorgt. „Wir sehen“, schreiben sie, „daß durch eine immer ausgefeiltere Pränataldiagnostik ein gesellschaftliches Problem, nämlich der Umgang mit einem Leben mit Behinderung in unsere Arztpraxis verlagert wird. Wir befürchten, daß ein risikoorientierter Denkstil sich mit hohen leistungsorientierten und ästhetischen Anforderungen an Kinder verbindet, während Bemühungen um Inklusion von Menschen mit Behinderung aus dem Blickfeld geraten. Eine bewußte Entscheidung für ein erkranktes oder behindertes Kind droht immer schwieriger zu werden.“

Noch einmal: Stimmt es, daß die Abtreibungszahl durch Schwangerschaftsabbrüche nach Diagnose nicht maßgeblich beeinflußt wird? Insofern die überwiegende Mehrzahl der Abtreibungen bei völlig unauffälligen Kindern geschieht, trifft diese Aussage zu. Daß aber hierdurch das Abtreiben, also das bewußte Töten behinderter Kinder relativiert wird, ist verwerflich. Bereits jetzt sehen sich Eltern von Down-Kindern mit der unverschämten Frage konfrontiert, ob „so was heutzutage sein muß“. Wir sehen diese Situation mit Sorge und warnen vor der nächsten Stufe, wo aus gesellschaftlichem Druck auf einmal gesetzlicher Zwang wird.






Prof. Dr. Paul Cullen, ist Labormediziner, Internist und Molekularbiologe. Er leitet ein Medizinlabor und ist außerordentlicher Professor für Laboratoriumsmedizin an der Uni Münster. Seit vier Jahren ist er Vorsitzender des Vereins „Ärzte für das Leben“.

Foto: Schwangerenbauch: Dürfen wir durch Verbote eine Diagnostik und Therapie verhindern, die nicht nur die Sterblichkeit rund um die Geburt senken, sondern das Überleben sichern hilft?