© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Es wird sich wie Regentropfen anfühlen
Das vereinsamte Kraftwerk: Ein sehenswerter Dokumentarfilm über die früh verstorbene US-Rocksängerin Janis Joplin
Sebastian Hennig

In seinen jungen Jahren bestand der Pop aus etwas Musik, einigen wenigen frischen Ideen und sehr viel Attitüde. Das Leben der Protagonisten war Sex, Drugs and Rock’n’Roll, in der Rangfolge der Bedeutung. Kein Wunder, daß es viele aus der Bahn getragen hat.

Die Überlebenden ragen sehr einsam über die Walstatt und schauen inzwischen eher unerfreulich aus. Sie sind gebessert und erleuchtet, als Vegetarier wie Paul McCartney, bekennende Christen wie Bob Dylan und Cliff Richards oder Muslime wie Cat Stevens. Mick Jagger beispielsweise ernährt sich während seiner Touren nur von Joghurt. Lemmy Kilmisters Leben – er starb kurz vor Jahresende (JF 2/16) – währte immerhin die biblischen siebzig Jahre, die der Psalter in Aussicht stellt: „Wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“

Am Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts starben Jimi Hendrix, Brian Jones, Jim Morrison und Kurt Cobain, kurz vor dem Abschnitt, dem die Sterndeuter die volle Kraft der körperlichen Leistungsfähigkeit beilegen. Auch die charismatischen Sängerinnen Alexandra und Amy Winehouse sind schon in diesem zarten Alter abgetreten.

Umrisse eines verletzlichen Menschen

Gegen die Mythisierung der zeitig Gestorbenen erheben nicht selten ihre nahen Freunde berechtigten Einspruch. Als Oliver Stone 1991 seinen Kinofilm über „The Doors“ drehte, beanstandete der Keyboarder der Band, Ray Manzarek: „Es ging nicht um Jim Morrison. Es ging um Jimbo Morrison, den Trunkenbold. Gott, wo war der sensible Poet und der witzige Mensch? Der Typ, den ich gekannt hatte, war nicht auf der Leinwand. Das war nicht mein Freund.“ 

Amy Berg gelingt dagegen in ihrem Dokumentarfilm „Janis: Little Girl Blue“ tatsächlich eine berührende Lebensgeschichte des vielleicht berühmtesten Mitglieds des sogenannten „For-ever 27 Club“. Sie bezieht die Aussagen der frühen Gefährten von Janis Joplin ein. Der Bruder, die Schwester und eine Jugendfreundin kommen zu Wort und zeichnen die Umrisse eines verletzlichen Menschen mit einfachen Bedürfnissen. Die Schauseite der Sängerin und die Tragik des Menschen stehen in dem klugen Filmessay dicht nebeneinander.

Studenten nominieren sie zum häßlichsten Mann

Der Titel der Dokumentation entspricht einem gleichnamigen Lied, das Joplin 1969 auf ihrem ersten Studioalbum „I Got Dem Ol’ Kozmic Blues Again Mama!“ veröffentlichte. Der Song „Little Blue Girl“ beginnt mit den Zeilen: „Du sitzt da, hmm, zählst Deine Finger. / Was sonst, was gibt es sonst zu tun? /Oh, und ich weiß, wie du dich fühlst, / Du fühlst dich, als wäre für dich alles vorbei.“ Das kleine traurige Mädchen sitzt also einfach da und zählt Regentropfen. Weiter heißt es dann in dem Stück. „Jemand hat es dir gesagt, weil du es wissen solltest, / Daß alles, worauf du dich jemals verlassen müssen wirst / Oder woran du dich anlehnen wollen wirst / Das wird sich genau wie diese Regentropfen anfühlen / Wenn sie niederfallen ...“

Auf den Filmbildern vom texanischen Port Arthur sind die tristen Raffinerien und Häfen zu sehen. Hier wurde Janis Joplin 1943 geboren. Sie war ein unschönes, lebhaftes und störrisches Mädchen. Gleichwohl haben ihre Eltern sie geliebt und zu ihr gehalten. Ihre Außenseiterrolle hat sie in der Vorwärtsverteidigung verfochten. Weil sie sich für Farbige einsetzte, wurde sie als „Nigger Lover“ und „Freak“ bezeichnet. Später zettelte sie gern Ärger an, dem ihre männlichen Begleiter dann nur durch geordneten Rückzug entgehen konnten. Eine Jugendfreundin berichtet: „Sie spielte das böse Mädchen, ohne es zu sein. Sie wollte die Männer ärgern.“

Janis Joplin geht nach Austin und singt dort in Countrybands. Durch ihre Rauhbeinigkeit wird sie nie so recht als Frau wahrgenommen. Dann vertreibt sie ein böser Scherz aus der Stadt. Mutwillige Studenten nominieren sie zum häßlichsten Mann von Austin. In San Francisco unternimmt sie einen zweiten erfolgreicheren Versuch. In der Hippiekolonie fühlt sie sich akzeptiert. Ihre laute Stimme schult sie an Otis Redding, Odetta und Aretha Franklin und wurde damit später selbst zum Vorbild weißer Soulsängerinnen wie Amy Winehouse und Joss Stone. 

Filmaufnahmen zeigen Fernsehshows mit Dick Cavett, wie sie mit der Band im Studio und beim Konzert musiziert. Eine bemerkenswerte Aufnahme stammt vom Klassentreffen in ihrer Heimatstadt. Bei aller vorschriftsmäßigen Lockerheit ist da deutlich zu spüren, wie ihr das Wiedersehen nahegeht. Die große Ernsthaftigkeit gelangt auch in der Szene während einer Fernsehshow zum Ausdruck. Als sie den Titel des nächsten Lieds mit „Down on me“ ankündigt, bemerkt Entertainer Dick Cavett in eindeutig lasziver Anspielung, das könne man wohl im Fernsehen nicht bringen. Joplin meint dazu ungerührt, das sei ein Gospel.

Vorübergehend kommt sie von den Drogen los

Der konformistische Cavett erinnert sich heute mit geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sie, während im Gegenzug dazu einer ihrer damaligen Geliebten, Joe McDonald von Country Joe and the Fish, die Beziehung als Reklamerummel herunterspielt. Wir erhalten Einblicke in die Musikindustrie und bemerken, wie das Unwillkürliche langsam aber stetig der Kalkulation unterliegt. Zunächst ist die Sängerin ein gleichberechtigtes Mitglied von Big Brother and the Holding Company. Den Offerten eines Produzenten entzieht sie sich, als der ihr voraussagt, daß die chaotischen Zeiten der Popmusik enden werden und diese melodischer würde. Ein Bandmitglied sagt dazu: „Rothchild hätte sie lebendig verschlungen.“ Paul A. Rothchild produzierte unter anderem The Doors.

Schließlich wird aber der Zusammenhalt doch dem Starrummel geopfert. Die Presse hetzt mit „Janis sollte Big Brother verlassen“, um dann nach dem Abgang zu dekretieren: „Janis sollte zu Big Brother zurückkehren.“ Bilder eines Konzerts in Frankfurt zeigen die steifen deutschen Fans, wie sie sich gehorsam und gewissenhaft dem verordneten „Groove“ diszipliniert unterziehen. Dafür reißt es in der Londoner Royal Albert Hall Tausende von ihren Plätzen.

In ihrer verzweifelten Ernsthaftigkeit schaffte es Janis Joplin zuletzt sogar vorübergehend, von den Drogen und ihren gefährlichen Freunden loszukommen. Die härteste Droge blieb für sie der Auftritt. Wenn es heißt, daß sie ein Kraftwerk war, während sie sang, dann war sie danach ein ausgekohltes Flöz und zuletzt eine Halde voller unerfüllter Hoffnungen. Die großen Momente auf der Bühne und der Ruhm haben sie nur kurz von ihrer anhaltenden Einsamkeit abgelenkt.

Schließlich gelangt sie doch an den Produzenten Paul Rothchild, und künstlerisch ist die Beziehung ein Gewinn. Er macht sie zum ersten Mal auf den tatsächlichen Umfang ihrer Stimme aufmerksam. „Ich will, daß du in dreißig Jahren dein bestes Album machst. Und daß du es mit mir machst.“ Daraus wurde bekanntermaßen nichts. Denn Joplins Leben endete tragisch, und so also auch die Filmdokumentation.

Nach den Konzerten erstarrte sie in Einsamkeit und glitt immer wieder in die Routine des Alkohol- und Drogenmißbrauchs zurück. Am 4. Oktober 1970 stirbt sie in einem Hotelzimmer an einer Überdosis Heroin. Es fehlte der Aufpasser, ein ihr zuverlässig zugeneigter Partner. Ein Telegramm des Mannes, der ihr menschlich wirklich ohne Vorbehalt zugetan war und sie vermutlich am Leben gehalten hätte, liegt am nächsten Morgen an der Rezeption. Der reisende Lehrer David Niehaus hatte die eigenwillige Frau in Brasilien kennen- und liebengelernt, ohne von ihrer herausgehobenen Stellung zu wissen. Retten konnte er sie nicht.