© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Nur die föderale Lösung hilft
Gespräch mit Nikolaj Lewtschenko: „Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren / Die Ukraine hat Besseres verdient“
Thomas Fasbender

Herr Lewtschenko, Sie gehören zur Generation jüngerer Politiker aus dem russischsprachigen Donbass, die sich für einen Verbleib dieser Region in einer föderal organisierten Ukraine einsetzen. Wie bewerten Sie die gegenwärtige Entwicklung?

Nikolaj Lewtschenko: Die politischen Differenzen entlang geographischer Linien in der Ukraine sind dieselben wie seit der Unabhängigkeit: hier der Süden und der Osten, dort das Zentrum und der Westen. Wer glaubt, die „Maidan-Revolution“ hätte dem Land eine neue Identität gegeben, ist naiv. Eines ist aber wichtig: Eine ethnisch russische Identität ist nicht gleichbedeutend mit einer prorussischen politischen Haltung.

Wenn dem so wäre, müßte es für die Kiewer Regierung doch ein leichtes sein, die russischsprachigen Ukrainer für einen gemeinsamen Staat zu gewinnen.

Lewtschenko: Sollte man denken. Aber die Amtsträger des Post-Maidan erreichen die Menschen im Süden und Osten des Landes nicht. Mit ihrer militärischen Anti-Terror-Operation haben sie ein Klima der Angst geschaffen. Dazu noch das Programm namens Lustration – Säuberung. Menschen mit ost-ukrainischen Wurzeln werden aus dem öffentlichen Leben entfernt. Den Wählern werden nur Kandidaten präsentiert, die Kiew genehm sind. Warum wurde bei den Kommunalwahlen im Oktober in den Donbass-Städten Krasnoarmijsk und Mariupol keine geheime Abstimmung durchgeführt? Der Opposition wäre ein überwältigender Sieg sicher gewesen. Als in Mariupol Ende November dann doch gewählt wurde, gingen 45 von 54 Sitzen an die Opposition. Gleichzeitig besetzt die Regierung politische Schlüsselpositionen mit amerikanischen, litauischen und georgischen Staatsbürgern. Wenn die Kiewer Politiker beabsichtigten, Rußland beim Auseinanderreißen der Ukraine zu helfen, könnten sie es nicht besser anstellen.

Das Minsker Abkommen aus dem Februar 2015 beschreibt einen Fahrplan aus der Misere. Warum wird der nicht umgesetzt?

Lewtschenko: Das hat mit den Nationalisten zu tun. Eindeutig Rechtsextreme oder überzeugte Faschisten sind relativ selten, aber Nationalismus genießt breite Sympathie. Die Autonomiegesetze für den Donbass gemäß Minsk II liegen ja auf dem Tisch. Nur kommen sie im Parlament nicht voran, weil man sich vor nationalistischer Gewalt fürchtet. Viele von denen wollen ja gar keine Rückeroberung des Donbass. Im Gegenteil, die träumen von einer Ukraine, in der es weder die russische Sprache noch ethnische Russen gibt.

Stichwort Gewalt. In den westlichen Medien herrscht der Eindruck vor, Gewalt gehe überwiegend von Rußland aus.

Lewtschenko: Was in den westlichen Medien steht, kann ich nicht beurteilen. Gewalt als Mittel der Politik ist in der Ukraine real. Die Nationalisten setzen sie ebenso ein wie die mächtigen Oligarchen. Erst im November wurde der Generalstaatsanwalt, der gerade einen prominenten Oligarchen durchleuchtet, Ziel eines Anschlags. Auch Oppositionspolitiker und Journalisten werden getötet.

Es ist oft zu hören, daß die Oligarchen, also die wenigen Superreichen, immer noch außerordentlich mächtig sind.

Lewtschenko: Nun, zum einen gehört der neue Präsident [Petro Poroschenko, d.Red.] selbst dazu. Er und Ministerpräsident Jazenjuk kamen mit Reformversprechen an die Macht, aber inzwischen ist die Korruption schlimmer denn je. Eine Umfrage, von USAID finanziert, hat kürzlich deren Anstieg in 2015 belegt. Ansätze zur Deregulierung oder Dezentralisierung laufen ins Leere.

Der Westen hat Berater entsandt, Reformvorschläge unterbreitet, alle möglichen Projekte finanziert – wenn das alles nicht hilft, was tun?

Lewtschenko: Die Ukraine muß wieder ein Ganzes werden, ein einheitlicher Staat. Wir müssen den Donbass und die übrigen Landesteile miteinander aussöhnen. Dazu bedarf es Verfassungsreformen mit dem Ziel der Föderalisierung, Regionalwahlen dort, wo jetzt die Volksrepubliken Donezk und Lugansk herrschen, Straferlaß beziehungsweise volle Amnestie für politisch Andersdenkende. Und ganz wichtig: Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Donbass müssen wiederhergestellt werden.

Ehrgeizige Ziele …

Lewtschenko: Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Das Land hat Besseres verdient, als von Demokraten ohne Demokratie regiert zu werden. Auch müssen die Ausländer aus ihren Machtpositionen entfernt werden. Mit allem Respekt unseren internationalen Freunden gegenüber – und zwar in allen Richtungen, Ost und West! –, die Ukraine, das ist unser Land. Wir haben genug Personal, um uns selbst zu regieren.

Das zeigt noch nicht, wie Sie Korruption und Oligarchen-Herrschaft niederringen wollen.

Lewtschenko: Mit dem derzeitigen Antikorruptionsgetöse will man nur den internationalen Geldgebern den nächsten Kredit aus der Tasche locken. Was die Ukraine braucht, sind Transparenz, ausländische Direktinvestitionen, ein Ende der Vetternwirtschaft und ein freier Markt. Kurzfristig braucht sie zudem dringend humanitäre Hilfe. Der Geschäftsmann Rinat Achmetow hat über fünf Millionen Hilfspakete auf beiden Seiten der Demarkationslinie verteilt, also auf der Regierungsseite und in der nicht anerkannten „Donezker Volksrepublik“. Es muß jedoch viel mehr getan werden.

Der Mann, den Sie erwähnen – Rinat Achmetow – zählt selbst zu den sogenannten Oligarchen. Sie haben noch nicht beantwortet, wie Sie diese Gruppe in einer neuen Ukraine sinnvoll integrieren wollen.

Lewtschenko: Die Gesellschaft zu ändern ist eine lange, schwierige Aufgabe. Auch die Geschäftswelt muß ihren Teil dazu beitragen. So wie ich ihn kenne, hat Achmetow sich durchgängig für die Menschen eingesetzt, vor allem im Donbass. Er hat das Interesse und die politischen und wirtschaftlichen Mittel, die Gegensätze auszugleichen. Dabei geht es vor allem um Arbeitsplätze – die Basis jeder sozialen Würde. Aber auch um Wirtschaftspolitik. Von den Reichen muß erwartet werden, humanitäre Unterstützung ohne politische Bedingungen zu leisten.

Und das Verhältnis zu Rußland und zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU)?

Lewtschenko: Eine Mitgliedschaft in der EWU fände in der Ukraine keine Mehrheit. Andererseits bietet niemand in Europa der Ukraine die EU-Mitgliedschaft an. Was das Land neben der EU-Assoziierung braucht, ist eine sinnvolle Handelsvereinbarung mit der EWU und die Wiederherstellung des Warenaustauschs mit Rußland. Voraussetzung ist, daß eine stabile, zur Zusammenarbeit mit Ost und West bereite Regierung die Loyalität aller Ukrainer und aller ukrainischen Regionen genießt.

Falls es zu einer Wiederannäherung mit Rußland kommt, welche Rolle spielt dann die Krim?

Lewtschenko: Darauf gibt es noch keine Antwort. Die Ukraine wird darauf bestehen, daß die Krim zurückkehrt. Der Westen unterstützt das, aber vielleicht sind das schon Lippenbekenntnisse. Moskau wird darauf beharren, daß die Krim russisch bleibt. Ich empfehle, das Thema derzeit auf Eis zu legen und eine Lösung für den Donbass anzustreben.  






Nikolaj Lewtschenko, der aus Donezk stammende Nikolaj Lewtschenko (34) war 2012 bis 2014 ukrainischer Parlamentsabgeordneter. Im Juli 2014 wurde er nach Kritik am militärischen Vorgehen gegen die Aufständischen in der Ostukraine aus der Obersten Rada ausgeschlossen. Lewtschenko tritt für eine föderale und multi-ethnische Ukraine ein.