© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

So günstig wie nie
AfD: Die Etablierten nehmen die Partei nun endgültig als Gefahr für sich ernst
Karlheinz Weißmann

Einer der wenigen nüchternen Köpfe der deutschen Politikwissenschaft, Peter Graf Kielmannsegg, hat einmal von der „eklatanten Zukunftsschwäche“ der Demokratie gesprochen. Fixierung auf die Gegenwart, so seine These, gehöre zu den Wesensmerkmalen aller demokratischen Systeme, es fehle ihnen die Weite der Perspektive und die Fähigkeit, über größere zeitliche Distanzen Projekte zu verfolgen. Dieser Nachteil gegenüber totalitären Diktaturen liegt auf der Hand. Die opfern ohne Rücksicht auf abweichende Meinungen oder entgegenstehende Interessen die Gegenwart der Zukunft und setzen Pläne im Blick auf ein noch so fernes Utopia durch; der Vorteil jedoch auch: Demokratien können sich ihrer Schwäche bewußt werden, und es können aus ihrer Mitte einzelne aufstehen oder sich Bewegungen bilden, die die Gefahr der Gegenwartsfixierung begreifen, die oppositionellen Kräfte bündeln und umzusteuern versuchen.

Dafür daß das geschieht, gibt es selbstverständlich keine Garantie, und die gegenwärtige Situation ist wesentlich durch die Anstrengungen der Politischen Klasse gekennzeichnet, ihre Stellung koste es was es wolle zu sichern und eine solche Kurskorrektur zu verhindern. Die Gründe dafür sind leicht zu verstehen. Eher über kurz als über lang wird die Frage nach der Verantwortung gestellt, und niemand aus den Reihen der etablierten Parteien und der „seriösen“ Medien kann sagen, daß er rechtzeitig, mit Nachdruck und laut genug vor den Folgen von Staatsversagen und Masseneinwanderung gewarnt hat. Das kann dazu führen, daß in einer bisher kaum vorstellbaren Weise der Sinnkredit aufgebraucht wird, von dem unsere wie jede andere politische Ordnung zehrt, jener Vertrauensvorschuß, den die Bürger der bestehenden Ordnung schon wegen ihres Bestehens einräumen.

Legitimitätsfragen spielen in modernen Gesellschaften kaum eine Rolle. Solange der Alltag läuft und das Ganze funktioniert, wird der einzelne kaum bezweifeln, daß die geltende Verfassung als die richtige und einzig mögliche zu betrachten ist, die von ihr vorgegeben Verfahren nicht nur hinzunehmen, sondern auch zu bejahen sind. Aber damit dürfte es rasch vorbei sein, wenn sich die Entwicklung zuspitzt, wenn Unsicherheit und Unzufriedenheit wachsen und keine Hoffnung auf Abhilfe besteht, wenn die Geschichte Tempo aufnimmt und man in eine Phase „beschleunigter Prozesse“ (Jacob Burckhardt) eintritt. 

Vieles spricht dafür, daß genau das jetzt geschieht und Turbulenzen zu erwarten sind. Die führen dazu, daß noch der Geduldigste die Geduld verliert, daß das, was eben noch als selbstverständlich galt, es jetzt schon nicht mehr ist, daß das, was gestern tabu war, heute die Spatzen von den Dächern pfeifen, und daß Personen und Ideen, die bis dato niemand kannte und niemand ernstgenommen hat, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Dasselbe gilt selbstverständlich für Parteien, und das Interesse, das die AfD dabei auf sich zieht, liegt in der Natur der Sache. Niemand erwartet im Ernstfall die Rettung von links, jeder erwartet sie von rechts. Die Linke hatte ihre Konjunktur in den windstillen Phasen der Nachkriegs- und der Nachwendezeit. Die sind jetzt endgültig vorbei. Aber was bedeutet das für die Rechte? Sie bildet genausowenig wie die Linke einen homogenen Block. 

Es gibt eine Vielzahl von Konzepten, ideologischen Ansätzen, Traditionen, es gibt Praktiker und Theoretiker, kluge Köpfe und Spinner, Apparatschiks und Religionsstifter, Einzelgänger und Weltverbesserer, Liberale, Libertäre, Christlich-Soziale und Christdemokraten, Konservative jeder denkbaren Schattierung, Nationale, Nationalisten aller möglichen Facetten. Das zur Kenntnis zu nehmen heißt auch begreifen, daß nur eine begrenzte Menge an Möglichkeiten besteht, aus diesem bunten Haufen eine handlungsfähige politische Einheit zu machen und sie den anderen, den Unentschlossenen wie den Zweiflern auf der Gegenseite, als akzeptable Wahl zu präsentieren. 

Um das zu erreichen, bedarf es zuerst der entscheidenden Tugend des echten Politikers: der „geschulten Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten“ (Max Weber), und das bedeutet Einsicht darein, was geht und was nicht geht. Dazu bedarf es weiter der klaren Scheidung von denen, die sich dem größeren Ziel – dem Zugriff auf die Macht – nicht unterordnen, wie von denen, die die geltenden Verfahrensregeln nicht akzeptieren wollen. Dazu bedarf es schließlich der Klärung, wie denn die Alternative der Alternative jenseits des politischen Klein-Klein aussehen soll, nicht nur, auf welche Parolen die zu bringen ist, sondern auch welche Weltanschauung ihr zugrunde liegen soll.

Im Moment sieht es so aus, als ob sich die Gegner der AfD über deren Chancen klarer sind, als diese selbst. Das erklärt die Aufrüstung der Feuilletons, wo man schon die intellektuellen Gegner der Aufmerksamkeit der Geheimdienste anempfiehlt, die hysterischen Kontaktverbote im baden-württembergischen Wahlkampf oder die drohenden Erwägungen des Bundesjustizministers, die Partei durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen. 

Faktisch sind das alles nur Beweise dafür, daß die AfD auf dem richtigen Weg ist und daß das Establishment sie als ernstzunehmende Gefahr einstuft. Ein Selbstläufer wird die Sache deshalb nicht, aber seit mehr als zwanzig Jahren hat es keine vergleichbar günstige Situation gegeben, um den Fortgang der Dinge grundsätzlich zu korrigieren. Und daß eine solche Korrektur notwendig ist, steht außer Frage, wenn es denn noch eine Chance geben soll, die Zukunft unseres Landes und Europas zu bewältigen.