© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Der Flaneur
Zeitreise in der Turnhalle
Tobias Dahlbrügge

In der Kaiserzeit wurde der großzügige Saal im Ortskern als Turnhalle gebaut. Im Stil der Zeit mit gemischten historischen Zitaten und viel Liebe fürs Detail. Die romanische Fassade wächst aus einem groben Natursteinsockel. Innen spannt sich ein Gewölbe hoch über dem Parkett. Türstöcke und Fensterrahmen spielen mit floralen Jugendstilschnörkeln. Man kann sich direkt plastisch vorstellen, wie die Jünger des Turnvaters Jahn hier im Matrosenanzug „Leibesübungen“ am Barren ausführten, während oben auf der Galerie der Lehrer streng durch seinen Kneifer blickte oder gutmütig seinen Tirpitzbart kraulte.

Die Kabinette an der Seitenwand boten einen Rückzugsort zum

heimlichen Knutschen.

In der Adenauer-Ära döste der stolze Bau als kommunales Magazin und Gerümpelkammer vor sich hin. In den siebziger Jahren bot er als Kino der Jugend des Landkreises Zerstreuung. Hier liefen Western, Krimis, Komödien, „Sandalenfilme“ und der ganze Edgar-Wallace-Krawall. Nicht zuletzt boten die Kabinette an der Seitenwand während der Filmvorführungen einen Rückzugsort zum heimlichen Knutschen. Dann wurde das Kino zum Jugendtreff mit Diskothek. Hier machten Generationen von Heranwachsenden erste Bekanntschaft mit Cola-Weinbrand-Mixturen.

Als der Ort ausstarb, setzten mutige Pächter auf ein Veranstaltungskonzept mit Kleinkunst. Dafür legten sie die alte vergessene Bühne wieder frei und entfernten die häßliche Zwischendecke aus den Siebzigern. Die Kommune zahlte das Material, aber die Arbeit mußten die Betreiber selbst anpacken. Das Ergebnis wurde nicht belohnt: Für das ambitionierte Kulturprogramm reichte das Einzugsgebiet der ländlichen Region nicht aus.

Heute sitze ich hier in einem Restaurant. Auf dem alten Turnboden stehen eingedeckte Tische. Während ich die bodenständige Küche genieße, stelle ich mir eine Zeitreise durch die hundertjährige Geschichte des Gebäudes vor. „Schmeckt’s dir nicht?“ reißt mich meine Frau aus den Gedanken. „Doch, doch, ich hab’ nur nachgedacht.“  – „Über was?“ – „Ach, nichts Besonderes.“