© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Eine Epidemie, die sich an Einkommensgrenzen hält
Übergewicht: Impressionen von einer US-Tagung zum Problem der „dicken Kinder“ Amerikas
Christoph Keller

In den US-Bundesstaaten South Carolina und Mississippi sind fast 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen adipös. Wegen der Politischen Korrektheit dürfen sie nicht als fett oder übergewichtig, sondern nur als „groß“, „schwer“ oder „mit anderen Talenten ausgestattet“ bezeichnet werden. Solche Sprachregelungen kaschieren jedoch den brutalen Befund einer Tagung der National Academy of Sciences nicht, den der Mediziner Ronald D. Gerste in Impressionen von diesem Wissenschaftlergipfel auf die Kurzformel bringt: „Amerikas Kinder gehören zu den fettesten der Welt.“

Armut, schlechtes Essen, verschwundene Väter

Diese „Epidemie des Übergewichts“, die schon 20 Prozent der Zwei- bis Fünfjährigen erfaßt, mache jedoch an Rassen- und Einkommensgrenzen halt. Denn die US-Gesellschaft sei auch beim Essen zutiefst gespalten: in jene, die sich eine gesunde Ernährung erlauben können, und jene den Minderheiten angehörenden Kinder und Jugendlichen, die dem „Junkfood“ ausgeliefert sind und die ihren Energiebedarf durch „Snacks“ decken.

Eine Umfrage unter geringverdienenden Eltern, von denen die Hälfte selbst adipös war, belegt, daß sich 50 Prozent wenig Gedanken über die Ernährung ihrer Kinder machen. Ein auf der Tagung der National Academy unterbreiteter Vorschlag, vor allem die Väter stärker zur Prävention des Übergewichts ihrer Sprößlinge heranzuziehen, scheitert für Mediziner Gerste an den Realitäten der US-Gesellschaft. Denn in den Stadtteilen mit hohem Armutsanteil und vielen übergewichtigen Kindern seien die meisten Väter längst aus dem Umkreis von Mutter und Kleinkind verschwunden, wenn diese ihren zweiten oder dritten Geburtstag feierten. Das Ende der Beziehung trete durch Verbrechen und Inhaftierung ein – 500.000 afroamerikanische Väter sitzen derzeit in US-Gefängnissen – oder durch gewaltsamen Tod: Mord sei die häufigste Todesursache schwarzer männlicher US-Bürger zwischen 15 und 34 Jahren. So bleibe Gesundheitsexperten nur die Option, die sozialen Ursachen eines vielleicht bald globalisierten Problems zu registrieren, Lösungen aber nicht anbieten zu können, weil sie nicht in die Kompetenz von Medizinern und Ernährungswissenschaftlern fallen.