© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Im Gegensatz zu heutigen Leitbildern des Kapitalismus
Die antikapitalistische Internationale formiert sich neu gegen das Diktat der „Märkte“
Dirk Glaser

Mit den Beschwörungen der natürlich determinierten „Grenzen des Wachstums“ mehrten sich in den siebziger Jahren auch die Prognosen, die dem kapitalistisch organisierten Wirtschaftssystem sein nahendes Ende ausmalten. Zur Überraschung der Internationale der Weltverbesserer trat in den frühen Achtzigern mit dem Thatcherismus und den Reagonomics das exakte Gegenteil des Prophezeiten ein: die Vitalisierung des Kapitalismus in der radikalisierten Version des globalisierten Neoliberalismus, dessen Triumph nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums dann sogar das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und die Betonierung des Kapitalismus für ewige Zeiten einzuläuten schien.

Belastungsgrenzen der Erde bereits überschritten

Der pünktlich 1990 entdeckte „Klimawandel“ widerlegte solche Endzeitvisionen genauso rasch wie der mit der Kuwait-Intervention (1991) anhebende „Krieg der Kulturen“ (Samuel Huntington). Die ökologischen Kosten kapitalistischen Wirtschaftens und die Widerstände, die die Existenzform des Westens im globalen Süden provozierte, zeigten abermals die lange verdrängten „Grenzen des Wachstums“ auf und befeuern seit einigen Jahren den totgesagten Antikapitalismus.

Für Chandran Nair, den indischen Gründer der in Hongkong residierenden Denkfabrik „Global Institute For Tomorrow“, ist daher ein neues, nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem schlicht alternativlos (Welt-Sichten, 9/2015). Denn das zuletzt im April 2015 in einem „Ökomodernistischen Manifest“ einmal mehr formulierte Versprechen, man könne dank technologischer Innovationen die Wirtschaftstätigkeit von ihren Auswirkungen auf die Umwelt abkoppeln, ist uneinlösbar. Der naive Optimismus von Wissenschaftlern, etwa weiter ungezügelt menschliche Siedlungsflächen zu erschließen, aber zugleich den Flächenverbrauch einschränken zu können, ist für Nair von Scharlatanerie kaum mehr zu unterscheiden. 

Unbestreitbar fest stehe hingegen, daß vier von neun Belastungsgrenzen unseres Planeten bereits überschritten seien: Artensterben, Entwaldung, Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre sowie Stickstoff- und Düngereintrag. Das „altmodische Wachstum“ der neoliberalen Globalisierung, das nur einem Viertel der Menschheit relativen Wohlstand sicherte, habe zu einer historisch beispiellosen Umweltzerstörung geführt und für Milliarden Menschen das soziale Elend verstetigt. Sollte diesem System ein „Weiter so!“ beschert sein, würde 2050, wenn die Weltbevölkerung mit zehn Milliarden Menschen einen Höchststand erreicht und Asien 53 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt stellt, der Ressourcenverbrauch die Regenerationsfähigkeit von anderthalb Erden erfordern. Der Kollaps wäre dann allein durch den globalen Energieverbrauch garantiert.

Die harte Einsicht „Die Party ist zu Ende!“ ist für Nair darum nicht länger mehr zu leugnen. „Wir werden unsere Gesellschaften neu organisieren müssen, um sie an die Tatsache anzupassen, daß die Ressourcen begrenzt sind. Das erfordert ein neues sozioökonomisches Leitbild in bezug auf Nachhaltigkeit, individuelle Rechte, Freiheiten und die Rolle des Staates. In vieler Hinsicht wird es im Gegensatz zu den heutigen (…) Leitbildern des Kapitalismus, der freien Märkte und der Demokratie stehen.“

Nairs ökologisch argumentierender Befund berührt sich hier mit soziologischen Analysen, wie sie Wolfgang Streeck jüngst vorlegte (JF 10/15). Für den emeritierten Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung bedroht der „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) nicht allein die Umwelt, sondern ist dabei, auch die andere Basis seines Wirtschaftens, die Strukturen und moralischen Ressourcen des demokratischen Rechtsstaates aufzulösen. Der dann unumschränkt herrschende Kapitalismus der „deregulierten Märkte“ würde indes, wie die indische, in Neu-Delhi lehrende Ökonomin Jayati Ghosh voraussieht (Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2015), mit mathematischer Sicherheit auch ohne Umweltkollaps in die Katastrophe führen. 

Das Bankenwesen muß sozialisiert werden

Denn profitgetriebenes Wachstum sei nur bedingt nachhaltig. Immer häufiger eintretende, destabilisierende Krisen seien die Folge, wenn die westliche Welt nicht „unverzüglich“ zu neuen Produktionsformen und Konsummustern finde. Dazu bedürfe es scharfer Maßnahmen wie der Sozialisierung des Bankenwesens, der höheren Besteuerung großer Erbschaften und Kapitalzuwächse, generell der „Bändigung des Finanzwesens“ sowie eines „tiefgreifenden Wandels multilateraler Institutionen und globaler Regelwerke“. Es ginge nicht länger an, daß eine Handvoll Wirtschaftsmächte, welche die größten Konzerne und Finanzinstitutionen der Welt beherbergten, nach wie vor beherrschenden Einfluß auf IWF und Weltbank hätten und somit die Verhandlungsprozesse in der Welthandelsorganisation WTO ebenso wie die der UN-Klimakonferenz diktierten. 

Ghosh verrät leider nicht, welche politische Macht diese Umwälzungen, gerade in bezug auf die Umstrukturierung der internationalen Finanzkonzerne, die einer wahren Weltrevolution gleichkämen, ins Werk setzen soll. Wie überhaupt die Konzepte der neu erstarkten antikapitalistischen Internationalen an ein aus der Medizin vertrautes Phänomen erinnern: in der Diagnose ein Riese, in der Therapie ein Zwerg.