© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Schulischer Lektürekanon im Englischunterricht
Subtil manipuliert
Michael Groschwald

Es mag zwar für England ein schwacher Trost sein, doch so wie bereits im 20. Jahrhundert ist das Englische auch im 21. Jahrhundert Welthandelssprache, Weltverkehrssprache, Weltkultursprache Nummer eins und demzufolge an allen Ecken und Enden des Erdballs als Lingua franca unverzichtbar. Dieser zentralen Bedeutung des Englischen sowie seiner darüber hinaus seit Beginn des 20. Jahrhunderts stetig wachsenden kulturellen und medialen Verbreitung trägt Deutschland schon seit 1923 Rechnung, indem es dem Englischen an Gymnasien den Status als erste Fremdsprache zukommen läßt und ihm somit didaktische Priorität vor dem vormals an deutschen Lehranstalten als moderner Fremdsprache dominierenden Französisch einräumt. Die flächendeckende, das heißt auch auf Haupt- und Realschulen übergreifende verbindliche Vermittlung der englischen Sprache vollzieht sich im Schuljahr 1964/65.

Seit dieser Zeit ist die Vermittlung des Faches Englisch einem stetigen Wandel unterlegen. Beschränkt man sich in den ersten Jahrzehnten nahezu ausschließlich auf das Einpauken von Vokabeln, unregelmäßigen Verben, Zeitformen und Konditionalsätzen, geht man Ende der sechziger beziehungsweise zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts dazu über, der Kommunikativität und Integrativität im Zuge des Spracherwerbs absolute Priorität einzuräumen. Dies bedeutet, daß von nun an wesentliche und die englische beziehungsweise angloamerikanische Politik, Historie und Kultur prägende Inhalte im Rahmen des Englischunterrichts aufgearbeitet, analysiert und vor allem diskutiert werden.

Bei der Auswahl der zu diesem Zweck in Frage kommenden expositorischen oder literarischen Texte genießen die unterrichtenden Lehrkräfte in diversen Bundesländern wie beispielsweise Nord­rhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg oder Bremen bis weit in die 2000er Jahre relativ große, ja fast uneingeschränkte Freiheit. Sie sind lediglich dazu verpflichtet, ihre Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, den von ihren jeweiligen Schulbehörden beziehungsweise Bezirksregierungen für die Abiturprüfung festgelegten sprachlichen und hermeneutischen Standards zu entsprechen.

Mit dem flächendeckenden Einzug des Zentralabiturs zur Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts büßen Englischlehrer dieser Länder sowie ihre für andere Fachbereiche zuständigen Kollegen das Recht zur autonomen Themenwahl und somit partiell zur unabhängigen Unterrichtsführung ein. Von nun an werden verbindlich zu bearbeitende Ganzschriften beziehungsweise Abhandlungen von den für die einzelnen Länder zuständigen Behörden vorgegeben.

Das Anliegen, Gymnasiasten mittels der Analyse und Diskussion literarischer Werke zur Vorbehaltslosigkeit zu ermuntern, ist im wesentlichen begrüßenswert, die Praxis an den Schulen erweist sich jedoch in mehrerlei Hinsicht als problematisch.

Die in den Anfangsjahren von den Behörden getroffene Auswahl verbindlicher Lektüren für den Oberstufenunterricht im Fach Englisch zeichnet sich durch ein relativ hohes Maß an thematischer Vielfalt aus und eröffnet somit Lehrkräften und Lernenden die Gelegenheit, sich mit einem breiten Spektrum historischer, kultureller, soziokultureller und politischer Aspekte des englischen Sprachraums zu beschäftigen. So werden beispielsweise in Niedersachsen neben Klassikern wie „Brave New World“ auch zeitgenössische Werke vorgegeben, die die Geschichte des in Großbritannien immer noch präsenten Irlandkonflikts in den Mittelpunkt stellen (Roddy Doyle: „A Star called Henry“) oder gar dem sehr sensiblen Thema des britischen Rechtsradikalismus in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Rechnung tragen (Kazuo Ishiguru: „The Remains of the Day“).

Allerdings wird am Beispiel des Bundeslandes Niedersachsen auch manifest, daß die thematische Diversität der Anfangsjahre des Zentralabiturs im Fach Englisch (2005–2011) einer Verengung auf Ganzschriften und thematische Vorgaben gewichen ist, die in erster Linie darauf abzielen, Schülerinnen und Schülern die negativen Konsequenzen sozialer, religiöser und ethnischer Ressentiments vor Augen zu führen. Nun ist das Anliegen, Gymnasiasten mittels der Analyse und Diskussion literarischer Werke zur Vorurteils- beziehungsweise Vorbehaltslosigkeit zu ermuntern, im wesentlichen begrüßenswert, erweist sich jedoch in zweierlei Hinsicht als problematisch: Zum einen drohen Begriffe wie Offenheit und Toleranz angesichts der inflationären Häufigkeit, in der sie bereits in Fächern wie Ethik, Werte und Normen sowie diverser Gesellschaftswissenschaften vermittelt werden, zu bloßen Worthülsen zu verkommen, zum anderen besteht die Gefahr, daß der britische oder angloamerikanische Sprachraum im Rahmen des gymnasialen Englischunterrichts auf seine imperiale und durch diverse ethnische Konflikte geprägte Vergangenheit reduziert wird.

Dies hat zur Folge, daß zentrale historische Ereignisse und politische Entwicklungen, die ihren Ausgang in Großbritannien oder den USA nehmen und zur Formung des heutigen Europas mit Deutschland als integralem und potenten Bestandteil führen, im Englischunterricht des Jahres 2015 vollkommen unerwähnt bleiben. Vergeblich sucht man nach Bezügen zur europapolitischen Ausrichtung Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Enoch Powells „Rivers of Blood“-Rede, zur Haltung Margaret Thatchers gegenüber „Germany’s Reunification“ oder zu der Entstehung der City of London sowie ihrer Einflußsphäre und Emblematik. Statt dessen sind in Niedersachsen von 2011 bis einschließlich 2017 Werke wie „The Black Album“ oder „My Son the Fanatic“ des pakistanischstämmigen Autors Hanif Kureishi verpflichtend zu behandeln. Werke also, die im wesentlichen auf der Prämisse beruhen, daß die Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften zwangsläufig zu deren persönlichem und moralischem Niedergang führt.

Der Vorwurf „You are too implicated in Western civilization“, den der radikale, in London lebende Muslim Ali, einer der Protagonisten in Kurei­shis Kurzgeschichte „My Son the Fanatic“ an seinen Alkohol trinkenden und Schweinefleisch essenden Vater richtet, ist nicht nur emblematisch für die Weltsicht vieler Figuren, die sich in Kureishis Werk tummeln, sondern erfährt durch die Handlungsverläufe seiner Geschichten immer wieder eine moralische Bestätigung. So weiß sich denn der integrationswillige und als beispiellos naiver Hedonist überzeichnete Vater, der an der westlichen Welt schätzt, daß man „dort alles darf“, keinen anderen Rat, als seinen nach strengen muslimischen Regeln lebenden Sohn ob dessen religiösen Purismus zu verprügeln.

Die Botschaft, die sich für den Sohn sowie für manch einen Leser hieraus ableitet, ist nahezu unmißverständlich: Der Westen leistet in seinem grenzenlosen Liberalismus nicht nur Drogenkonsum und Maßlosigkeit Vorschub, sondern schreckt bei der Verbreitung seiner Überzeugung zudem nicht vor brutaler Gewalt zurück. Die imponierende Integrationsarbeit, die insbesondere die Briten nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs hinsichtlich der Einbürgerung von Pakistanern, Indern und Menschen aus der Karibik geleistet haben, fällt hierbei schmerzlicher- und ungerechtfertigterweise vollkommen unter den Tisch.

Es bleibt einzig und allein in der Hand des Lehrers, zu entscheiden, ob das Augenmerk der Schüler auf argumentative Schwächen, tendenziöse Passagen oder krasse Überzeichnungen eines vorgegebenen Textes gelenkt werden soll.

Damit aber nicht genug. Erschwerend kommt hinzu, daß die die von den Bundesländern vorgegebenen thematischen Schwerpunkte aufgreifenden und unterfütternden Schulbuchverlage bei der Ausgestaltung ihrer Lehrbücher oftmals auf Texte zurückgreifen, die bei Integrationsprozessen in Großbritannien oder den USA auftretende Schwierigkeiten monokausal auf westliche Dekadenz oder Ignoranz zurückführen. Drastischstes und unrühmlichstes Beispiel hierfür stellt der von Sarfraz Manzoor verfaßte Artikel „Britain should integrate into Muslim values“ dar, der in dem bei Klett erschienenen Oberstufenlehrbuch „Green Line“ abgedruckt ist und im Grunde alle liberalen und demokratischen Tendenzen, die sich im Bereich westlicher Bildung und Erziehung manifestieren, als dekadent, zersetzend und antimuslimisch darstellt.

Ein zusätzliches Manko ist es, daß der Verlag es nicht für nötig erachtet, den polarisierenden und partiell verstörenden Artikel mit einem Aufgabenapparat zu unterfüttern, der Schüler in die Lage versetzt, die in dem Artikel vertretenen und vollkommen überzogenen Ansichten kontrovers zu diskutieren. Es bleibt an dieser Stelle einzig und allein in der Hand der Lehrkraft, zu entscheiden, ob das Augenmerk der Lernenden auf argumentative Schwächen, tendenziöse Passagen oder krasse Überzeichnungen, die der Artikel zweifelsohne enthält, gelenkt werden soll. Erfahrungsgemäß entscheiden sich viele Lehrkräfte ob einer omnipräsenten und alles durchdringenden Political Correctness oftmals dagegen und überlassen somit ihre Schüler im schlimmsten Fall einer Strömung, deren primäres Ziel darin zu bestehen scheint, Traditionen, Werte und Errungenschaften der westlichen Welt auf dem Altar einer politisch erzwungenen Anbiederungskultur zu opfern und preiszugeben.

Angesichts einer bedenklichen Entwicklung, die jungen Lernenden nicht nur den Blick auf die auch von Einwanderern in die westliche Welt zu verantwortenden Fehlentwicklungen verstellt, sondern ihnen darüber hinaus auch ihre politische Mündigkeit zu rauben droht, scheint es dringend angeraten zu sein, die im Sprachunterricht zu vermittelnden Inhalte und Werte auf eine neue thematische und didaktische Grundlage zu stellen. Denn, und dies steht außer Frage, bei keiner anderen Disziplin als der des Englischen beziehungsweise der des modernen Fremdsprachenunterrichts gehen Erwerb fachlicher Expertise und die Erlangung interkultureller Kompetenz eine solch starke symbiotische Einheit ein. Schon in Thomas Manns „Doktor Faustus“ ist zu lesen, daß „die seelische Zusammenordnung von sprachlicher und humaner Passion durch die Idee der Erziehung gekrönt wird und die Bestimmung zum Jugendbildner sich aus derjenigen zum Sprachgelehrten fast selbstverständlich ergibt“.






Michael Groschwald, Jahrgang 1973, arbeitet als Oberstudienrat an einem Gymnasium in Niedersachsen. Er schrieb diverse Bücher über die Didaktisierung und methodische Aufbereitung literarischer Werke im Englischunterricht.