© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Ja, wo leben sie denn?
Tradition mit ungewisser Zukunft: In insgesamt 27 Ländern gibt es – noch – deutsche Minderheiten / Elf von ihnen stellen wir in einem kompakten Überblick vor
Martin Schmidt

Außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs, der Schweiz, Liechtensteins und Luxemburgs leben in Europa noch gut zwei Millionen Menschen, die sich als Deutsche fühlen beziehungsweise Deutsch als Muttersprache haben. Diese Zahl ergibt sich aus den 1,2 Millionen vom Bundesministerium des Innern für die Staaten Mittel- und Osteuropas genannten Angehörigen deutscher Minderheiten sowie eigenen Recherchen der JUNGEN FREIHEIT.

Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die meisten dieser Landsleute unter schwierigen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen zu leiden. In besonderer Weise gilt das für die Rußlanddeutschen und jene zunächst noch zahlreichen, dann in Folge von Massenaussiedlungen bis auf kleine Reste zusammengeschrumpften heimatverbliebenen Bewohner der einstigen Ostgebiete des Deutschen Reiches. Erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums gab es jenseits des vormaligen Eisernen Vorhangs spürbare Erleichterungen. Andererseits besiegelte diese Zäsur mit Blick auf Rumänien das Schicksal bis dahin kulturell vergleichsweise intakter Gruppen wie der Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben.

Nicht aufgeführt werden in der folgenden Zusammenstellung die heutigen Elsässer und Ost-Lothringer. Denn der schillernde Begriff einer „Minderheit“ trifft auf die Nachfahren jener seit Jahrhunderten im Grenzland zwischen Frankreich und Deutschland beheimateten Menschen ganz sicher nicht zu. In dieser Region stellen sie keine Minderheit dar, sondern die angestammte Mehrheitsbevölkerung. Eine vergleichbare Siedlungskontinuität und Majoritätssituation ist auch für die deutschen Südtiroler und die deutschsprachigen Belgier im Raum Eupen und St. Vith festzustellen. 

Wie die Elsaß-Lothringer definieren sich auch die Deutschbelgier selbst fast alle nicht (mehr) als Deutsche, selbst wenn sie noch deutscher Muttersprache sind. Doch ihre jahrhundertelange Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum und Territorium rechtfertigt ihre Berücksichtigung auf dieser Seite. Ähnliches gilt für häufig als „altösterreichisch“ bezeichnete Siedlungsreste wie jene in der slowenischen Untersteiermark.

Die Bezeichnung „Minderheit“ unterliegt dem Problem einer zusehends unschärferen Definition, wodurch in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen zu sozialen Minderheiten verwischen oder nicht über viele Generationen in Europa beheimatete Zuwanderer-Ethnien zu sogenannten „neuen Minderheiten“ erklärt werden.

Die Systematik der Zusammenstellung ist bewußt uneinheitlich. Das heißt, Zuordnungen zu heutigen Staaten (Rumänien, Ungarn, Kroatien u. a.) tauchen neben Regionalnamen wie Nordschleswig oder Schlesien auf. Hieraus läßt sich unter anderem schließen, ob eine Volksgruppe eine gewisse zahlenmäßige Bedeutung hat und ob sie geschlossen siedelt oder weiter verstreut. 

Wichtig ist der Hinweis, daß die Auswahl aus Platzgründen unvollständig ist. So fehlen – neben Ostpreußen – kleine Siedlungsgebiete wie das Kanaltal in Italien, die deutschen Sprachinseln in Oberitalien (Fersental, Lusern), das stark französisierte Areler Land (Arlons) in Südostbelgien, das Schiltal in Rumänien oder die sogenannten Schönborn-Dörfer in der Karpaten-Ukraine. 





Kroatien

Klein, aber fein

Größe: Gemäß der jüngsten amtlichen Volkszählung von 2011 leben in Kroatien 2.965 Deutsche. Es handelt sich in der Regel um Donauschwaben, die zum großen Teil rund um die Stadt Esseg (kroat. Osijek) im östlichen Slawonien, aber in kleineren Gruppen beispielsweise auch in Vukovar beheimatet sind.

Deutschkenntnisse: Esseg ist der Sitz der „Deutschen Gemeinschaft – Landsmannschaft der Donauschwaben in Kroatien“. Vor Ort gibt es ein eigenes Kulturzentrum und einige wenige deutsche Schulen, die die geschwundenen Deutschkenntnisse erneuern sollen. 

Haltung des Staatsvolkes: Nicht zuletzt wegen der traditionell guten deutsch-kroatischen Beziehungen genießt diese Minderheit offizielle und allgemeine Anerkennung. Zusammen mit einigen anderen kleinen Volksgruppen ist man durch einen ständigen Vertreter im Nationalparlament repräsentiert. 2005 wurde in Zagreb ein Gesetz über die Rückgabe der am Ende des Zweiten Weltkrieges zwangsenteigneten donauschwäbischen Besitztümer verabschiedet.

Zukunftsfähigkeit: ? ?





Rumänien

Betagte Brückenbauer

Größe: In den verschiedenen jahrhundertealten deutschen Siedlungsgebieten, vor allem Siebenbürgen, das Banat und die Region Sathmar, sind laut Volkszählung von 2013 noch 36.000 Deutsche zu Hause. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es ungefähr 800.000. 

Deutschkenntnisse: Die deutschen Sprachkenntnisse haben, abgesehen von den Sathmarer Schwaben, bis heute muttersprachlichen Charakter und werden durch ein noch immer erstaunlich vitales eigenes Schulsystem mit deutscher Unterrichtssprache weitergegeben. Die auf eine überaus stolze Kulturgeschichte zurückblickenden heimatverbliebenen Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben sind fast alle alt. Nur die Sathmarschwaben sind vielfach jünger, sehen sich allerdings einem erheblichen Madjarisierungsdruck ausgesetzt. 

Haltung des Staatsvolkes: Die Rumäniendeutschen genießen sehr weitgehende Minderheitenrechte und erfreuen sich eines enormen gesellschaftlichen Prestiges. Nicht von ungefähr amtiert seit Dezember 2014 mit Klaus Johannis einer von ihnen als Staatspräsident. 

Zukunftsfähigkeit: ? ?





Ostbelgien

Die letzten Belgier

Größe: Die sogenannte Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) besitzt im föderalen belgischen Staat eine eigene Verwaltungseinheit mit den beiden Kerngebieten um Eupen im Norden und St. Vith im Süden. Sie zählt rund 76.300 Personen.

Deutschkenntnisse: Das Deutsche, einschließlich verschiedener Dialekte, ist für einen Großteil der innerhalb der DG lebenden Personen selbstverständliche Alltags-, Schul- und Verwaltungssprache.

Haltung des Staatsvolkes: Die politischen Vertreter der deutschen Ostbelgier haben den Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen erfolgreich zur stetigen Erweiterung eigener Kollektivrechte genutzt, sind in ihren Minderheitenrechten unangefochten und hängen gefühlsmäßig besonders stark am zerfallenden belgischen Gesamtstaat.

Zukunftsfähigkeit: ? ? ? ? 





Ungarn

Musterminderheit auf dem Papier

Größe: Quantitativ ist die in verschiedene traditionelle Siedlungsräume (Ofener Bergland, Schildgebirge, Ost-Burgenland, Tolnau, Branau u. a.) zu gliedernde ungarndeutsche Minderheit seit dem Untergang des Sowjetsystems immer stärker geworden. Dies liegt im nunmehr freien Bekenntnis begründet und in der Hoffnung auf verschiedenste Vorteile. Qualitativ gesehen leidet sie weiter unter den althergebrachten Assimilationstendenzen. Bei der Volkszählung von 2011 nannten 132.000 Personen die deutsche Nationalität.

Deutschkenntnisse: 2011 gaben 96.000 Einwohner Ungarns an, daheim Deutsch zu sprechen. 

Haltung des Staatsvolkes: Formalrechtlich geht es der ungarndeutschen Volksgruppe bestens. Sie verfügt über zahlreiche örtliche Minderheitenselbstverwaltungen, ein respektables zweisprachiges Schulwesen. Die Regierung Orbán führte 2013 einen offiziellen „Gedenktag für die Vertreibung der Ungarndeutschen“ (19. Januar ) ein. 

Zukunftsfähigkeit: ? ? ?





Tschechien

Versprengte Nachlaßverwalter

Größe: Einst war die deutsche Bevölkerung in den Randzonen Böhmens und Mährens sowie im ehemaligen österreichischen Teil Schlesiens groß und wohlhabend. Die Gesamtzahl der sogenannten Sudetendeutschen belief sich in der Zwischenkriegszeit auf über drei Millionen. Nach Flucht und Vertreibung blieben rund 200.000 übrig. Heute bekennen sich gemäß Volkszählung von 2011 knapp 19.000 Menschen als Deutsche. Nennenswerte Gruppen sind vor allem im südlichen Erzgebirge, aber auch im westböhmischen Bäderdreieck dokumentiert.

Deutschkenntnisse: Vereinfacht gesprochen gebrauchen die Alten nach wie vor ihre deutsche Muttersprache, die mittlere Generation ist zweisprachig, und die unter 30jährigen verwenden das Deutsche nur selten und wenn, dann in der Regel eher als Fremdsprache.

Haltung des Staatsvolkes: Die Einstellung der lange Zeit von tiefsitzenden antideutschen Ressentiments geprägten Tschechen beginnt sich zwar langsam zu entspannen, ist aber noch immer weit weniger aufgeschlossen als die der Slowaken, Rumänen und Kroaten, ja sogar der sich von Antigermanismen zusehends emanzipierenden Polen.

Zukunftsfähigkeit: ?





Schlesien

Zwischen Hoffen und Bangen

Größe: Die heute noch im Hauptteil Schlesiens östlich des Grenzflusses Neiße lebenden Deutschen konzentrieren sich auf die oberschlesischen Bezirke Oppeln und Kattowitz; in Niederschlesien gibt es bloß noch kleine Reste z. B. in Breslau, Liegnitz und Waldenburg. Bei der gesamtpolnischen Volkszählung von 2011 bezeichneten sich in Schlesien rund 45.000 Personen ausschließlich als Deutsche, während etwa 103.000 neben der deutschen die polnische oder schlesische Nationalität angaben. Aber auch unter jenen immerhin 817.000 Bürgern, die sich bei dieser Zählung als Nationalschlesier deklarierten, ist ein nicht genauer zu beziffernder Teil dem Umfeld der deutschen Volksgruppe zuzurechnen.

Deutschkenntnisse: Aufgrund der jahrzehntelangen massiven Unterdrückung der deutschen Sprache und Identität gibt es eine erhebliche Polonisierung selbst unter den Deutschen im Oppelner Land. Diese ist jedoch keinesfalls deckungsgleich mit den nationalen Bekenntnissen, die häufig unklar sind. Das größte Problem der Volksgruppe ist das weitgehende Fehlen eines muttersprachlichen deutschen Schulunterrichts.

Haltung des Staatsvolkes: Die polnische Minderheitenpolitik hat sich nach der Wende gegen viele innere Widerstände zu europäischen Standards durchgerungen, die sich im Minderheitengesetz von 2005 und der seit 2003 rechtskräftigen Bildungsverordnung widerspiegeln. Allerdings gibt es noch immer eine Kluft zwischen Theorie und gelebter Praxis, was sich etwa in jüngsten Diskussionen über Einschnitte bei der Finanzförderung des Minderheitenschulwesens offenbart. 

Zukunftsfähigkeit: ? ? ?





Südtirol

Widerständige Bergbewohner

Größe: Südtirol wurde mit dem Vertrag von Saint-Germain von 1919 trotz aller ausschließlich deutsch-österreichischen historischen Bindungen Italien zugeschlagen. Heute ist es „Autonome Provinz“, in der rund 515.000 Menschen leben, davon über 62 Prozent Deutsche.

Deutschkenntnisse: Nach massiven Italienisierungsversuchen insbesondere unter der faschistischen Regierung in der Zwischenkriegszeit, aber auch noch bis in die sechziger Jahre hinein, ist die kulturelle und sprachliche Lage der deutschen Südtiroler nunmehr seit Jahrzehnten vergleichsweise sehr gut. 

Haltung des Staatsvolkes: Da die zwangsweise Zugehörigkeit zu Italien als politisches Problem fortwirkt, belasten vielfältige Versuche einer möglichst engen administrativen und vor allem finanziellen Verknüpfung mit dem Zentralstaat diese ungelöste Volkgruppenfrage.

Zukunftsfähigkeit: ? ? ? ? ?





Rußland

Verlierer des Jahrhunderts

Größe: Heute gibt es in der Russischen Föderation ungefähr eine halbe Million Deutschstämmige (Volkszählung 2002). Sie leben sehr verstreut mit Schwerpunkten in Sibirien. Durch den Verlust ihrer angestammten Heimat an der Wolga, am Schwarzen Meer oder im Kaukasus wurde diese Volksgruppe nachhaltig von ihren kulturgeschichtlichen Wurzeln abgeschnitten.

Deutschkenntnisse: Ein muttersprachlicher Gebrauch des Deutschen dürfte sich in dem riesigen Land auf kleine freikirchliche Milieus von höchstens wenigen zehntausend Personen beschränken.

Haltung des Staatsvolkes: Die Rußlanddeutschen  konnten sich von der totalen Entrechtung, Benachteiligung und Verschleppung  in der Stalin-Ära nie mehr erholen, zumal ihnen nach dem Umbruch von 1989 keine Territorialautonomie zugebilligt wurde. Zudem siedelten in den frühen neunziger Jahren Hunderttausende stärker deutsch geprägte Angehörige in die Bundesrepublik aus. Da die Russifizierung der Verbliebenen sehr weit fortgeschritten ist und der Forderungskatalog ihrer politischen Vertreter bescheiden, entfallen etwaige Schwierigkeiten mit dem russischen Staatsvolk und den politischen Lenkern im Kreml.

Zukunftsfähigkeit: ?





Slowenien

Unterdrückte Steirer

Größe: Bei der letzten slowenischen Volkszählung von 2002 bezeichneten sich nur 499 Personen als Deutsche sowie 181 als Österreicher. Sie leben in ihren bis zur Vertreibung erheblich größeren traditionellen Siedlungsräumen in der Untersteiermark mit den städtischen Zentren Marburg a. d. Drau/Maribor, Pettau/Ptuj und Cilli/Celje sowie ganz vereinzelt noch in der Gottschee.

Deutschkenntnisse:  Die Zahl derjenigen, die das Deutsche als „Umgangssprache in der Familie und Muttersprache“ angaben, lag 2002 bei 1.628 Personen. 

Haltung des Staatsvolkes: Slowenien erkennt die Existenz der winzigen alteingesessenen deutschen Volksgruppe bis heute offiziell nicht an. Das Verhältnis ist noch immer schwierig und wird von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und tiefsitzenden kollektiven Vorurteilen, Ängsten und Komplexen belastet. 

Zukunftsfähigkeit: ? ?





Slowakei

Alle Rechte, wenig Zukunft

Größe: Die karpatendeutsche Minderheit zählt offiziell rund 5.000 Angehörige (Volkszählung 2011), wird aber auf über 10.000 Personen geschätzt. Sie lebt weit verstreut in den alten Heimatregionen rund um die Hauptstadt Preßburg, im Hauerland, Bottwartal und in der Zips.

Deutschkenntnisse: Die deutschen Sprachkenntnisse sind selbst in Minderheitenhochburgen stark rückläufig. Vor allem die große Mehrheit der über 50jährigen unter den Mitgliedern des Karpatendeutschen Vereins spricht auch im Alltag ihre überlieferten deutschen Mundarten.Haltung des Staatsvolkes: Die Slowakei verfolgt eine betont minderheitenfreundliche Politik, die auch der kleinen deutschen Gemeinschaft alle nötigen Rechte und eine freie Entfaltung ermöglicht. Das ändert allerdings nur wenig am schwindenden Willen, das eigene karpatendeutsche Bewußtsein an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben und so dauerhaft zu erhalten. 

Zukunftsfähigkeit: ?





Nordschleswig

Vorbildliche Nordlichter

Größe: Im Raum zwischen den Städten Apenrade im Norden,  Tondern im Westen und Sonderburg im Osten leben zwischen 15.000 und 20.000 Angehörige der deutschen Minderheit.

Deutschkenntnisse:  Das Deutsche ist für Nordschleswiger mit deutschem Bekenntnis ebenso selbstverständlich ihre Muttersprache, wie es das Dänische für die sich dänisch fühlenden Südschleswiger in der Bundesrepublik ist. Man verfügt über ein gut ausgebautes, flächendeckendes eigenes Schulsystem.

Haltung des Staatsvolkes: Seit der Teilung Schleswigs durch die aus dem Versailler Vertrag resultierende Volksabstimmung von 1920 ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Dänen in unserem nördlichen Nachbarland weitgehend unproblematisch.

Zukunftsfähigkeit: ? ? ? ? ?