© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Der Flaneur
Sehnsucht nach Hunger
Josef Gottfried

Den Kopf gesenkt, so wie von Trauer, blick ich auf des Glases Grund, voller Inbrunst in Gedanken geht es in mir hin und her: „Schau doch nur, du liebe Welt, du wirst mir nicht gerecht. Gut, ich hab es warm und trocken, Freunde auch und Amüsement so viel ich, nein, mehr noch als ich will und brauche.“ – „Fein“, so sagt die Welt in mir, „was fehlt dir nun, du Spießer, Tor und Jammerlappen?“ – „Ach, sei nicht so hart mit mir, ich weiß doch auch, daß Grund zur Klage nicht besteht.“ – „Na was denn, was denn? Raus damit, nun sag schon, was dich drängt und martert. Andernfalls, mein lieber Freund, verlier ich die Geduld mit dir und setze fort, was fortzusetzen ist.“

„Bitte, sei nicht gram mit mir, ich dank dir doch, nur, du hast mir eins genommen.“

„Nun ja“, so halt ich ruhig dagegen, den Blick verschämt zum Tisch gesenkt, „ohne mich gelingt dir nichts, du bist ja doch an mich gebunden.“ – „O ja, du hast es rausgefunden, ich weiß es schon seit Wochen. Dein Gehorsam ist Geschichte, obschon du mich als Herren wünschst.“ – „Ja, und Herr will ich dich forthin nennen, Welt, du großes Ziel, Idee und Eifer, wie sehn’ ich mich nach mehr von dir.“

„Mehr noch? Ja? Hör ich dich wohl? Ich gab dir alles, was ich konnte, Norden, Süden, Osten, Westen, Berge, Täler, Flüsse, Seen. Dörfer, Städte, Länder gar, was denn noch? Du Gierschlund, Vielfraß, Tunichtgut!“

„Bitte, sei nicht gram mit mir, ich dank dir doch von ganzem Herzen, nur, du hast mir eins genommen ...“ – „Jemine! du machst mich fertig. Ich? Dir eines nur genommen? Wo doch alles, was ich ...“ – „Hör doch zu, ich bitt dich, Freund, Geliebter, glaube mir, ich dank dir sehr von ganzem Herzen ...“

„Und was nun, sag schon! Was hab’ ich dir je genommen?“ – „Eins nur, Lieber, nur den Hunger nahmst du mir, ich bin so satt von allem.“ – „Schwindlig wird mir, halt mich fest, den kann ich dir nicht geben. Wie kannst du jetzt nur das verlangen?“ – „Ich habe keine andere Wahl.“ – „Doch. Und das ist dein Problem.“