© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Wehe, wenn der Rechtsstaat erodiert
Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio sieht das westliche Gesellschaftsmodell in der Krise
Wolfgang Müller

Von 1999 bis 2011 saß Udo Di Fabio als Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts und war als Berichterstatter für politisch so brisante Urteile wie die zum Lissabon-Vertrag und zum Euro-Rettungsschirm zuständig. Beide Entscheidungen tragen die Handschrift eines Juristen, der als „Liberalkonservativer“ gilt. Eine Einstufung, die oft ironisch gemeint ist und dann als „weder Fisch noch Fleisch“ zu übersetzen ist.

Zu diesem Fazit dürften auch viele Leser seines jüngsten Buches neigen, das sich mit dem „schwankenden Westen“ befaßt. Wobei für den Autor der „Westen“ kein geograpischer Begriff ist, sondern ein „Muster der Welterklärung, eine bestimmte Organisation von Gesellschaft und eine standardisierte soziale Sinngebung“, Daseinsgestaltungen, die im 21. Jahrhundert auf allen Kontinenten den Takt des Lebens vorgeben. Trotzdem kommen die USA nur am Rande, das verwestlichte Asien, Lateinamerika und die zivilisierten Zonen Afrikas in diesem so gut wie gar nicht vor. Nicht einmal der aktuell gefährlichste Widersacher des „Westens“, der radikalisierte Islam des Nahen und Mittleren Ostens, spielt eine Rolle, obwohl, wie Di Fabio beiläufig bemerkt, dieser „Versuch der Selbstbehauptung eines Kulturraums gegen den Sog westlicher Modernisierung“ gerade jene schweren Erschütterungen zumindest des Selbstverständnisses der Europäer verursachte, die der Verfasser als „Schwanken“ wahrnimmt.

Nicht nur diese Ausblendung von gegenwärtig Europa am meisten bedrängenden und bedrohenden Realitäten gibt dem Text etwas eigentümlich Steriles. Auch die Vorliebe Di Fabios für die ahistorische Systemtheorie des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann, der Gesellschaft in ein Pluriversum autonomer Funktionssphären, Recht, Politik, Kultur, Religion, Wissenschaft  zerlegt, verstärkt diesen Eindruck. Luhmann folgend, steuert Di Fabio rasch auf seine Diagnose der westlichen Krankheit zu. 

Die Krisen des letzten Jahrzehnts, eskalierend im Drama der „Euro- und Griechenlandrettung“, erklären sich für Di Fabio aus der Entdifferenzierung der Funktionssysteme von Politik und Wirtschaft. In Griechenland habe man versucht, den Primat der Politik gegen die Funktionslogik der Wirtschaft durchzusetzen. Das sind Grenzüberschreitungen, die das gesamte Gesellschaftsystem zur Disposition stellen können. Vor dreißig Jahren lief es genau andersherum: die von Margaret Thatcher und Ronald Reagan entfesselten „Märkte“ sollten Politik und Gesellschaft dominieren. Damit hätten neoliberale Konzepte nicht nur das hoch leistungsfähige westliche Wirtschaftssystem nachhaltig destabilisiert, sondern auch die soziale und politische Ordnung. 

Neben diesen eher steuerungstechnischen Erörterungen, die sich quasi Bedienungsfehlern des Führungspersonals widmen, behandelt das schmale Werk im zweiten und ausführlichsten Kapitel die interessantere Frage nach den normativen Prämissen des westlichen Gesellschaftsmodells. Denn die Funktionsstörungen müssen hier, im „Überbau“ der handlungsleitenden Weltbilder ihren Ursprung haben. In einer intellektuell anspruchsvollen ideenhistorischen Rückschau auf Renaissance-Humanismus und Aufklärung will Di Fabio daher ins Bewußtsein rufen, was Europas geschichtlich desorientiert wirkende Eliten vergessen oder verdrängt haben. 

Jene, die täglich so hingebungsvoll die „europäischen Werte“ beschwören, können sich aus der Perspektive eines weit über der Durchschnittsbildung seines Berufsstandes stehenden deutschen Juristen nicht einmal mehr schattenhaft vorstellen, was darunter zu verstehen ist. Jedenfalls wohl kaum Rockkonzertbesuche, unbegrenzter Alkoholkonsum oder das Recht, auf Caféhausterrassen zu sitzen „Werte“, wie sie hilflos stammelnde Brüsseler oder Berliner Politiker nach den letzten Pariser Massakern definierten. 

Stattdessen erinnert der 61jährige Bonner Staatsrechtler an einen Wertekanon, den man noch zu seiner Studienzeit wie eine zweite Haut trug. Wer dem vielbeschworenen „Menschenbild des Grundgesetzes“ gehorchte, dessen Kern aus Freiheitsrechten, der Herrschaft des Rechts, Volkssouveränität, Demokratie und Gewaltenteilung besteht, fühlte sich den Diktaturen sowjetischen oder chinesischen Zuschnitts zivilisatorisch haushoch überlegen und klassifizierte das massenmörderische Pol-Pot-Regime in Kambodscha, den „Islamischen Staat“ der 1970er, nicht einmal als Fragment des Menschlichen.

Es fehlt an Bewußtsein, den Abstieg wahrzunehmen

Diese Selbstgewißheit und dieser Stolz auf Dynamik, Stabilität und Kreativität Europas, auf den in Jahrhunderten erarbeiteten humanen Standard des europäischen sozialen Rechtsstaates bröckeln augenscheinlich. Und mit ihnen die „Grundsätze tragfähiger Haushaltswirtschaft, das Ethos des professionellen Berufsbeamten, das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns“. Wohin es auf dieser abschüssigen Bahn gehen könnte, illustriert Di Fabio mit einem Blick auf das ebenfalls zum Westen zählende Mexiko. Zerfalle der Rechtsstaat, rückten Kriminalität und Gewalt nach, auch im Staatsapparat selbst. Wenn wie in Mexiko inzwischen das Militär die organisierte Kriminalität bekämpfe, weil dies der korrupten Polizei nicht mehr zuzutrauen sei, und diese Soldaten töteten wie im Kampfeinsatz, dann vermittle dies eine Ahnung davon, „was jedem westlichen Land droht, wenn der Rechtsstaat erodiert“. Aber für die Anfänge solchen Abstiegs fehle es hierzulande bereits an Bewußtsein.

Die entscheidende Frage, warum dieses Bewußtsein für die Stärken und Errungenschaften des Westens, individuelle Freiheit, persönliche Würde, für Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft gerade bei den hiesigen Eliten schwindet, bleibt bei Di Fabio allerdings unbeantwortet. Ein blinder Fleck in seiner Krisenanalyse, der sich aus der von Luhmann abhängigen Fixierung auf „die Gesellschaft“ und ihre Unterfunktionen Staat und Wirtschaft erklärt. Von Nation, Volk, Familie, Kultur, Überlieferung, Erziehung, Bildung ist folglich weniger die Rede. 

Dabei ist sich der Verfasser über die Energien, die seine Funktionssysteme von dorther beziehen, durchaus im klaren. Denn diese Systeme entwickelten sich alle nur im Rahmen des Nationalstaates. Die Legitimationskrise, an der Europas Gesellschaftsmodell und seine Werte kranken, vergrößert sich daher in dem Umfang, wie sich „die international orientierten Eliten“ vom Nationalstaat verabschieden. Ohne ihren Völkern zu verraten, welcher andere politische Herrschaftsverband die solidarische Kraft hätte, „Existenzsicherung verläßlich zu organisieren“. 

An dieser Stelle hätte Di Fabio seinen staubfreien Luhmann-Kosmos ruhig einmal verlassen dürfen, um die für seine Suche nach den Ursachen europäischer Identitätsschwäche so zentrale wie fatale Kombination von Kosmopolitismus, Multikulturalismus, Einwanderung und dem suizidalen Willen zur Selbstpreisgabe zu erfassen, wie sie sich in diesem Sommer der „Flüchtlingskrise“ im kalkulierten Kontrollverlust der Bundesregierung unter Angela Merkel gezeigt hat.

Udo Di Fabio: Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muß. Verlag C. H. Beck, München 2015, gebunden, 272 Seiten, 19,95 Euro