© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Was Weihnachten bedeutet
Geburt der Menschenwürde
Sebastian Moll

Wie in jedem Jahr hören wir dieser Tage wieder die klassische Aufforderung, sich der wahren Bedeutung von Weihnachten bewußt zu werden. Zumeist ist damit eine Kritik unseres Konsumverhaltens gemeint. Bei Weihnachten geht es doch nicht um die Geschenke! Gespannt wartet man bei solchen Aussagen dann auf den Teil, der klassischerweise mit „sondern“ beginnt. Doch meist wartet man vergebens. Einig sind wir uns alle offenbar vor allem darüber, worum es bei Weihnachten nicht geht, und Kapitalismuskritik kommt sowieso immer gut an. Auch Menschen, die sich selbst als religiös bezeichnen, wissen oft recht wenig über die spezifischen Inhalte ihrer Religion. Das gilt nicht nur für Christen. Der Glaube dieser Menschen beinhaltet im wesentlichen die Vorstellung, daß es einen Gott gibt und daß dieser Gott über sie wacht, was ihnen einerseits ein Gefühl von Geborgenheit gibt und sie andererseits dazu anhält, sich anständig zu verhalten. Wer bei diesem Religionsverständnis steckenbleibt, der möchte seine Mitmenschen natürlich auch zu Weihnachten nicht mit einer inhaltsschweren Botschaft belasten.

„Das Kind in der Krippe hat nur überlebt, weil seine Eltern in Ägypten Asyl gefunden haben.“ Bereits im letzten Jahr gab der frisch gewählte Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, diese Worte anläßlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes zum besten. Man möchte sich gar nicht ausmalen, von wie vielen Kanzeln beim diesjährigen Weihnachtsgottesdienst dieser Satz in gleicher oder ähnlicher Form auf die Gemeinden losgelassen wird.

Neben der fragwürdigen Verknüpfung des Weihnachtsfestes mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik ist dies aber noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Die EKD, die ja sonst nahezu jedwede Authentizität der biblischen Überlieferung bestreitet, hält ausgerechnet an diesem eher unbedeutenden Teil des Evangeliums fest. Von der Jungfrauengeburt bis hin zur Auferstehung kann und darf so ziemlich jedes Element unseres Glaubensbekenntnisses von Kirchenfunktionären geleugnet werden, ohne daß dies irgendwelche disziplinarischen Konsequenzen hätte. Bei der Flucht nach Ägypten aber, die nur von einem der vier Evangelisten (Matthäus) berichtet wird, handelt es sich offenbar um eine nicht zu bestreitende historische Tatsache.

In der klassischen Weihnachtsgeschichte nach Lukas ist von einer derartigen Flucht, geschweige denn von Asyl, nicht die Rede. Hier wird erzählt, wie Maria und Josef nach Bethlehem reisen müssen, um sich in die Steuerlisten des römischen Kaisers einzutragen. Gott bewahre uns vor dem Tag, an dem unsere durch Steuern finanzierten Kirchenoberen die politische Sprengkraft dieser Version entdecken: „Erst durch staatliche Zwangsabgaben wurde das Weihnachtsfest überhaupt erst möglich!“

Wir schreiben das Jahr, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Ganz Judäa ist von den Römern besetzt. Ganz Judäa? Ja, ganz Judäa! Das Römische Reich erstreckt sich von der Iberischen Halbinsel bis nach Kleinasien. Doch eins fehlte dieser großartigen Zivilisation.

Was ist denn nun die „wahre Bedeutung“ dieses Festes? Was genau ist vor nunmehr über 2.000 Jahren geschehen? Wir schreiben das Jahr, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Ganz Judäa ist von den Römern besetzt. Ganz Judäa? Ja, ganz Judäa! Das Römische Reich erstreckt sich von der Iberischen Halbinsel bis zur heutigen Türkei und mit ihm die griechisch-römische Zivilisation. Mit ihr erlebt die Menschheit bisher nie gekannte Höhen. Eine gut ausgebaute Infrastruktur, ein hochentwickeltes Rechtssystem, eine effiziente Verwaltung – das Reich funktionierte.

Doch eines fehlte dieser großartigen Zivilisation. Sie konnte den Menschen nicht um seiner selbst willen schätzen. Der Gedanke der unantastbaren Würde eines jeden Menschen wäre den meisten Bewohnern des Reiches absurd vorgekommen. Sklavenhaltung war die natürlichste Sache der Welt. Auch das demokratische Vorbild des antiken Griechenlands entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Schimäre. Demokratische Systeme innerhalb der griechischen Stadtstaaten hielten meist nur kurze Zeit und endeten für gewöhnlich in einer grauenvollen Pöbelherrschaft. Große Persönlichkeiten wie Sokrates oder Themistokles wurden von diesen Regimen zum Tode verurteilt oder in die Verbannung geschickt.

Es war ebendiese Entwicklung, die dazu führte, daß Philosophen wie Platon die Demokratie vehement ablehnten und statt dessen das Modell eines autoritären Kastenstaates propagierten. Für römische Philosophen wie Cicero wiederum war der Begriff der dignitas (Würde) zwar von großer Bedeutung, doch betrachtete er diese als eine zu erwerbende Eigenschaft, keineswegs als eine allen Menschen zuzusprechende. Damit traf er exakt das Gefühl dieser Epoche.

Doch in diese Epoche fällt nun ein Ereignis von solchen Ausmaßen, daß es die Kunst des Historikers nicht zu beschreiben vermag. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, daß es einige Jahre dauerte, bis sich Menschen daran wagten, das Geschehene zu Papier zu bringen. Noch Jahrhunderte später wird Francesco Petrarca (1304–1374), der Vater des Renaissance-Humanismus, den Bruch mit der antiken Kultur in schwärmerisches Staunen fassen: „Freue dich, menschliche Natur, die in ihrem äußersten Elend mehr gesegnet wurde, als sie es sich mit all ihrem Verstand hätte vorstellen können. Richtet euer gebildetes Genie darauf, sage ich. Hört, Platon, Aristoteles und Pythagoras: Hier liegt es verborgen, nicht ein lächerlicher Kreislauf von phantasievoller Seelenwanderung, sondern ein gewiß größeres Geheimnis wahrer Erlösung. Höre, Varro, Gebildetster unter den Menschen, der du so leidenschaftlich die Geheimisse erforscht hast: Hier wird nicht die Ratsversammlung deiner Götter und ihrer Irrtümer beschrieben, sondern die Wahrheit und Verehrung des einen Gottes (...) Er kam herab zur Erlösung der Menschheit, die er erhöht hat.“

Die weitverbreitete Vorstellung, die Renaissance hätte sich gewissermaßen von dem christlichen Erbe Europas gelöst und erst durch diesen Befreiungsschlag zu ihrem Menschenbild gelangen können, hält einer historischen Überprüfung nicht stand. In Wahrheit zeigen Autoren wie Petrarca zwar eine unüberhörbare Wertschätzung für die antiken Denker, doch ebensowenig kann die Betonung der Menschwerdung Gottes überhört werden. Dieses Ereignis, das den menschlichen Verstand übersteigt, weshalb es selbst von den größten Geistern nicht erdacht werden konnte, bildet den Kern eines Menschenbildes, das die Grundlage unserer Zivilisation werden sollte.

Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen der Idee der Menschenwürde und dem Glauben an den Gottessohn ist heute vielfach verlorengegangen. Bereits im Jahre 1875 argumentierte der Sozialdemokrat August Bebel gegenüber dem katholischen Priester Wilhelm Hohoff, der sich bei Bebel über dessen Angriffe auf das Christentum beklagt hatte, wie folgt: „Der sogenannte gute Kern im Christentum, den Sie, aber ich nicht darin finde, ist nicht christlich, sondern allgemein menschlich, und was das Christentum eigentlich bildet, der Lehren- und Dogmenkram, ist der Menschheit feindlich.“

Wenn die Grundpfeiler unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich und kulturunabhängig sind, wie kommt es dann, daß sie allesamt von christlichen Nationen entwickelt wurden und bis heute nahezu ausschließlich von diesen verwirklicht werden?

Einen ähnlichen Denkfehler, wenngleich mit völlig anderem Ausgang, begingen übrigens auch die Gründerväter der USA, als sie in ihre Unabhängigkeitserklärung die Worte einfügten: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal.“ Der hier formulierte Grundsatz ist in Wahrheit nämlich alles andere als self-evident (offensichtlich). Er konnte den Verfassern der Erklärung nur deshalb so erscheinen, weil sie von dem Glauben an den Schöpfer beseelt waren und dies auch explizit in ihren Worten zum Ausdruck brachten. Auch Bebels Vorstellung, die christliche Ethik sei im Grunde nichts anderes als menschliche Ethik und somit unabhängig vom christlichen Dogma, basiert auf demselben Irrtum.

Heute sind es vor allem Multikulti-Apologeten, die gerne darauf hinweisen, daß die sogenannte Goldene Regel („Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“) letztlich ein Bestandteil aller Religionen und Kulturen sei, so daß es keiner spezifisch christlichen Ethik bedürfe. Wenn aber Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die anderen Grundpfeiler unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich und kulturunabhängig sind, wie kommt es dann, daß sie allesamt von christlichen Nationen entwickelt wurden und bis heute nahezu ausschließlich von diesen verwirklicht werden?

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22, 37-40)

Die unmittelbare Verbindung von Gottesliebe und Menschenliebe bildet den genuinen Kern christlicher Ethik. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, faßt Jesus sie an anderer Stelle noch einmal prägnant zusammen. Doch alle seine Worte blieben leere Floskeln, wäre er selbst nicht der lebende Beweis für ihre Richtigkeit. Gott wurde Mensch. Deshalb sind Gottesliebe und Menschenliebe zwei Seiten derselben Medaille, deshalb sind alle Menschen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie, Klasse oder Nation, ein adliges Geschlecht. Jeder von uns kann in Christus, dem Gottessohn, seinen Nächsten erkennen, nicht nur, aber insbesondere in der stillen und heiligen Nacht.

Doch damit dieses Wunder möglich wird, braucht es die Verkündigung. Daher mein Wunsch an die Prediger: Bringen Sie die Botschaft unter die Menschen! Mein Wunsch an die Hörer: Lassen Sie sich von der Botschaft ergreifen! Begreifen kann man sie ohnehin nicht.






Dr. Sebastian Moll, Jahrgang 1980, studierte evangelische Theologie. Er lebt als freier Autor und Publizist in Bingen am Rhein. Zuletzt erschien von ihm „Das Evangelium nach Homer. Die Simpsons und die Theologie“.

Sebastian Moll: Das Evangelium nach Homer. Die Simpsons und die Theologie. Brendow Verlag, Moers 2015, gebunden, 144 Seiten, 12,95 Euro

Foto: Die Flucht nach Ägypten, Fragment des Mühlhausener Altars aus dem Bamberger Dom: Waren Maria und Josef die ersten Asylsuchenden der Kirchengeschichte?