© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

„Vermeintliche“ Standards unerwünscht
Nationale Identität im Zeichen von Masseneinwanderung: Mit linken „Volkstod“-Phantasien und staatlicher Ignoranz auf dem Weg zur Selbstaufgabe
Michael Paulwitz

Wie der sprichwörtliche Gorilla auf der Hollywoodschaukel sitzt die Frage nach der Bewahrung, der Veränderung oder dem drohenden Verschwinden einer deutschen nationalen Identität unausgesprochen mit dabei, wenn über die Bewältigung der illegalen Einwanderung gesprochen wird. Für eine vergreisende Nation bedeutet der Zustrom Hunderttausender meist junger Männer aus dem muslimisch-orientalischen Kulturkreis, die auf eine schwache einheimische Kohorte Gleichaltriger mit bereits hohem Anteil nur teilweise integrierter Einwanderer trifft, einen beschleunigten Bevölkerungsaustausch vor dem Horizont von vielleicht nur einer Generation.

Nur wenige sprechen den ursächlichen Zusammenhang so offen aus wie der Berliner Historiker Jörg Baberowski: „Das Deutschland, das wir kennen, wird durch die Masseneinwanderung verschwinden. Es ist das Deutschland, das auf einem christlichen Wertefundament beruht. All das, was uns lieb und teuer war, womit wir unserem Leben bislang einen Halt gegeben haben, muß sich ändern, weil Menschen aus einem anderen Kulturkreis kommen und auch andere Vorstellungen davon haben, wie wir leben sollen.“

Die Darstellung der Vielfalt hat Vorrang 

Eine öffentliche Debatte über die Zukunft der eigenen nationalen Identität wird in Deutschland, wenn überhaupt, nur mit angezogener Handbremse geführt. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge propagierten obligatorischen Integrationskurse bieten entsprechend neben Sprach- auch Orientierungskurse an. Hier wird über die deutsche Rechtsordnung, Geschichte und Kultur, über Rechte und Pflichten in Deutschland, Formen des Zusammenlebens in der Gesellschaft sowie über Werte, die in „Deutschland wichtig sind, zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung“, aufgeklärt. 

„Die Darstellung von Vielfalt“ hat dabei allerdings „Vorrang vor der Vermittlung vermeintlicher kultureller Standards“, so das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem „Curriculum für einen bundesweiten  Orientierungskurs“.

Wer den Charakter Deutschlands als Land der Deutschen in Gefahr sieht, sieht sich reflexhaft als „Ausländerfeind“ abgestempelt; formiert sich zaghafter Widerstand, wie er sich beispielsweise in der „Pegida“-Bewegung oder im Aufkommen neuer Parteien wie der AfD artikuliert, die den stillschweigenden Grundkonsens der großen Koalition der Wohlmeinenden in Frage stellen, ist die Denunziation als „völkisch“ und „nationalistisch“ und die pauschale Verachtung als „Pack“ schnell bei der Hand.

Das „Gutheißen und Willkommen“, schreibt Botho Strauß in seinem Essay „Der letzte Deutsche“, geschehe „derart forciert, daß selbst dem Einfältigsten darin eine Umbenennung, Euphemisierung von Furcht, etwas magisch Unheilabwendendes auffallen muß“. In der Tat gestaltet sich die Suche nach Indizien, daß das Abräumen noch vorhandener Reste einer deutschen nationalen Identität mit dem Werkzeug der Masseneinwanderung von nicht wenigen Akteuren erwünscht und beabsichtigt ist, nicht schwierig.

Linke „Volkstod“-Liebeserklärungen gehören dagegen zur achselzuckend quittierten Polit-Folklore. Für die Einwanderungs-Lobbyistin Anetta Kahane wäre die gezielte Ansiedlung der Flüchtlingsmassen im Osten der Republik die ersehnte Korrektur – oder sollte es heißen: Rache – dafür, daß nach dem „nationalistischen Auftrieb“ der Wiedervereinigung „ein Drittel des Staatsgebiets weiß blieb“. Bei der Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hört sich das so an: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“

Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoguz plädiert gar für eine neue Identität. Die 25jährige deutsche Einwanderungsgeschichte müsse künftig als Fundament für eine „gute, funktionierende Einwanderungsgesellschaft“ und eine „neue, gemeinsame deutsche Identität“ dienen, erklärt die SPD-Politikerin.

Eine radikale Position zur Auflösung dieses Widerspruchs ist die Leugnung der Existenz von Völkern und Nationen. „Nationale Identität ist ein Hirngespinst“, postulierte kürzlich ein Essay in der Süddeutschen Zeitung, und Nationen seien lediglich Vorstellungen, „Konstrukte“ aus dem 19. Jahrhundert zur Legitimation von Staaten und Herrschaft. 

Diese Sichtweise, die die Thesen des britischen Marxisten Eric Hobsbawm als vermeintlichen wissenschaftlichen Konsens absolut setzt, ignoriert nicht nur, daß auch das moderne Nationalbewußtsein nur entstehen konnte, wo bereits ein gewachsenes Zusammengehörigkeitsgefühl als Volk im Sinne von Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft vorhanden war – das lateinische „natio“ leitet sich bekanntlich von „nasci“, „geboren werden“, ab. Die Theorie übersieht auch mit leichter Hand, daß die vermeintliche „Konstruktion“ der Nation Grundlage der überlieferten europäischen Staatenordnung und des Konzepts des demokratischen Nationalstaats ist, dessen Solidargedanke ein Mindestmaß an nationaler und sozialer Homogenität und Gemeinsamkeit des Willens verlangt.

Überdies ändert die Tatsache, daß westliche Intellektuelle eine nationale Identität für sich ablehnen und überwinden wollen, nichts daran, daß Einwanderer aus anderen Kulturkreisen nicht nur bevölkerungsstatistische Faktoren mitbringen, sondern auch ihre je eigenen ethnischen und kulturellen Identitäten und in vielen Fällen durchaus nicht beabsichtigen, diese einfach abzulegen, nur weil westliche Soziologen solches für überholt halten. 

Konzept der Nation gilt als nicht mehr zeitgemäß    

Im besonderen Maße gilt das für den Islam, den Christopher Caldwell in seinen „Reflections on the Revolution in Europe“ als „Hyper-Identität“ charakterisiert. Konflikte mit autochthonen Identitäten und „doppelte Loyalitäten“ sind damit programmiert; der Versuch, diese durch forcierte Umerziehung der autochthonen Bevölkerung zu entschärfen, kann das Gegenteil bewirken: die Wiederentdeckung oder Verstärkung der eigenen nationalen Identität.

Die ethnische Identität autochthoner Deutscher steht freilich als Folge der Masseneinwanderung in Konkurrenz zu einer Vielzahl immigrierter Identitäten. Ob daraus eine neue kollektive Identität erwächst, ist offen. In den Worten von Jörg Baberowski: „Deutschland muß nun – wie auch die USA – einen gemeinsamen Nenner finden, auf den sich das Leben der Vielen bringen läßt. Wie das geschehen soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es nicht einfach werden wird.“

Auf sozialwissenschaftlicher Ebene wird diese Debatte immerhin bereits geführt. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) stellte seine – bezeichnenderweise in englischer Sprache durchgeführte – Jahreskonferenz unter das Generalthema „Nationale Identität in Bewegung“, wobei die Auflösung des Konflikts zwischen nationaler Identität und ethnischer Identität verschiedener Gruppen innerhalb eines multiethnischen Staates als Kernthema der „Integration“ erkannt wird. 

Während die einen in Frage stellen, ob Einwanderungspolitik überhaupt dafür in Anspruch genommen werden darf, Identität zu bekräftigen oder herzustellen und die Unterscheidung von mehr oder weniger gut zu integrierenden Einwanderern bisweilen unter dem Generalverdacht unzulässiger „Ausgrenzung“ steht, sehen andere die nationale Identität weltweit im Fluß und in einem Prozeß der Ablösung von der ethnischen Abstammung.

Hier stellt sich freilich die Frage, was dann eine Gesellschaft über das Nebeneinander von monadischen Individuen hinaus zusammenhalten soll. Demetrios G. Papademetriou, Mitgründer und Leiter der Washingtoner Denkfabrik „Migration Policy Institute“, will Skepsis gegenüber Einwanderung mit einem umfassenden, sich verändernden Begriff von Identität überwinden, der auch „multiple Identitäten“ zuläßt. Auch der Sozialanthropologe und Vorsitzende des „Rates für Migration“ Werner Schiffauer, der das „Konzept der Nation“ für „nicht mehr zeitgemäß“ hält, antwortet wiederum mit einem Konzept, nämlich der Überwindung der Teilung zwischen „Wir“ und „Die“ zugunsten eines doch wieder „inklusiven Wir“. 

Soll heißen: Berlin – Preußen sagt er nicht, meint er aber – sei letztlich geformt von unterschiedlichen Gruppen, Hugenotten, Holländern, Böhmen, Polen, die „Konstruktion“ einer „homogenen Nation“ sei nur übergestülpt. Das Preußentum als jahrhundertelang wirkende assimilierende Klammer läßt der Soziologe geflissentlich weg. Auch die „multiplen Identitäten“ sind eine Banalität: Mit der deutschen Nation konnten sich Bayern, Sachsen oder Hessen  sehr wohl identifizieren und trotzdem ihr Stammesbewußtsein bewahren. Ob afrikanische oder arabisch-muslimische Identitäten ähnlich reibungslos einfügbar sind, darf bezweifelt werden.

Den Schluß, daß ein asiatischer Einwanderer in Schottland wie in Deutschland um so leichter akzeptiert wird, je schottischer oder deutscher er sich selbst fühlt und bekennt, zog man auch auf der WZB-Konferenz. Allerdings: Bilden sich aufgrund zu vieler und zu integrationsunwilliger Einwanderer Parallelgesellschaften, bleibt dieser Effekt aus. In jedem Fall macht Einwanderung den Bürger schwächer und den Staat stärker: sei es als Steuerer, der Einwanderer auswählt und begrenzt, sei es als Ordnungsmacht angesichts sich vervielfachender Konflikte bei schwindenden Gemeinsamkeiten.

Im politischen Alltag ist davon bislang wenig mehr angekommen als Beruhigungsphrasen und weltferne Deklamationen und Absichtsbekundungen. Die Identität werde nicht zur Disposition gestellt und das Zusammenleben nach den „Regeln, die hier gelten“ organisiert, beruhigt der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. Wie das zu bewerkstelligen wäre, sagt er nicht. 

Einziger Identifikationskitt sind materielle Vorteile 

In der CDU kursierende Ideen vom „Leitbild Grundgesetz“, auf das Einwanderer per Gesetz verpflichtet werden sollen, dürften sich angesichts der schieren Zahl der Neuankömmlinge als papierene Deklarationen erweisen, solange Einwanderern keine souveräne deutsche Identität vorgelebt wird, die es dem einzelnen erstrebenwert erscheinen läßt, sich „deutsch“ zu fühlen. 

Den Versuch, eine Ersatzidentität ohne nationale Dimension zu verordnen, hat Bernard Willms schon vor dreißig Jahren als eine der „sieben Todsünden gegen die deutsche Identität“ ausgemacht, die wiederum aus der Lage der Deutschen als „Besiegte von 1945“ resultiere. Eine am Reißbrett entworfene Leitkultur- und Grundgesetz-Identität wäre letztlich nichts anderes als ein Wiedergänger von „Verfassungs“- und „Europa“-Patriotismus, der Nationsflucht der alten Bundesrepublik. Die Reduzierung einer „Werte“-Identität auf den Besitz des deutschen Passes, die für alle geltenden „Menschenrechte“ oder die Teilhabe am Sozialstaat bedeutet schließlich, prosaisch gesprochen: Der einzige Identifikationskitt, den wir anbieten, sind materielle Vorteile.