© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Das Asyl-Grundrecht privilegiert politisch verfolgte Ausländer gegenüber Deutschen
Wie Merkel das Volk täuscht
Wolfgang Philipp

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die von ihr betriebene Öffnung Deutschlands für die Zuwanderung von mehr als einer Million Flüchtlingen allein in diesem Jahr mit der Behauptung begründet, das Grundrecht auf Asyl kenne „keine Obergrenze“. Sie erweckt also den Eindruck, von der Verfassung zu ihrem Handeln gezwungen zu sein. Dabei stützt sie sich auf den früheren Artikel 16 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Dieser Satz blieb auch erhalten, als 1993 das Asylrecht durch Einfügung eines neuen Art. 16a in das Grundgesetz stark eingeschränkt wurde. Diese Einschränkungen hat Frau Merkel aber unerwähnt gelassen und damit im Volk ganz falsche Vorstellungen hervorgerufen:

In dem neuen Artikel 16a Absatz 2, Satz 1 heißt es nämlich unter anderem, auf das Asylrecht könne sich „nicht berufen, wer aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung der Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“. In Satz 3 ist weiter festgelegt, daß in diesen Fällen „aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden können“. Solche Flüchtlinge können also schon an der Grenze oder später jederzeit ohne weiteres ab- oder ausgewiesen werden.

Dazu heißt es in dem vielbändigen Grundgesetzkommentar von Maunz-Dürig-Herzog, diese Regelung solle erreichen, daß das Vorbringen solcher Flüchtlinge, sie seien politisch verfolgt, „nicht geprüft werden muß und demzufolge kein vorläufiges Bleiberecht entsteht“. Reisen Ausländer über den Landweg an, „so waren sie zuvor in einem sicheren Drittstaat, da die Bundesrepublik ausnahmslos von sicheren Drittstaaten umgeben ist“.

Wie allgemein bekannt, reisen derzeit fast alle Flüchtlinge mit Hilfe ihrer Schlepper über die EU-Mitgliedsstaaten Österreich, Slowenien oder Italien nach Deutschland ein.

Alle diese Flüchtlinge könnten also allein deswegen ohne jede Prüfung ihrer Asylgründe an der Einreise gehindert werden. Das gilt auch, wenn sie Rechtsmittel dagegen einlegen, die sie dann vom Ausland aus hier verfolgen könnten.

Das bedeutet: Die „Obergrenze“ liegt in diesen Fällen nicht irgendwo im „Unendlichen“, wie Merkel im September suggerierte (es gibt über sieben Milliarden Erdbewohner), sondern kann von der Bundesregierung in jeder beliebigen Höhe bis herab auf Null festgesetzt werden. Die Aussage der Kanzlerin zu einer „Obergrenze“ erweckt im Volk aber die extrem fehlerhafte Vorstellung, die Massenzuwanderung sei Folge des Asylgrundrechts. Davon ist kein Wort wahr, es handelt sich vielmehr um rein politische Entscheidungen, für die das Asylgrundrecht in der Masse der Fälle irrelevant ist.

Nicht die Väter des Grundgesetzes sind verantwortlich, sondern die Bundesregierung trägt die volle Verantwortung für alle Probleme und auch alle Schädigungen und Verletzungen ihrer eigenen deutschen Bürger, die sich aus der von ihr allein gewollten und geförderten Zuwanderung ergeben. Das 1993 geänderte Verfassungsrecht des Artikel 16a GG wird bewußt nicht angewendet, sondern ignoriert. Das hat die Kanzlerin mit ihrer Rede von der „Obergrenze“ verschwiegen. Ein solcher Täuschungsvorgang ist schon wegen seiner enormen Wirkungen ein Skandal, der sehr wohl eine Rücktrittsforderung gegen die Kanzlerin stützen kann.

Sofern Deutsche im Ausland politischer Verfolgung unterliegen, regelt Artikel 11 Grundgesetz für sie die gleiche Problematik, mit der sich das Asylrecht im Hinblick auf politisch verfolgte Ausländer befaßt, allerdings mit einem gravierenden Unterschied.

Bleiben die wenigen Fälle, in denen das Vorliegen eines Asylgrundes überhaupt noch geprüft werden muß, zum Beispiel wenn ein Flüchtling etwa per Schiff an der deutschen Küste ankommen würde. Auch hier stellt sich aber die Frage, ob das „Grundrecht auf Asyl“ überhaupt verfassungskonform ist.

Diese Frage wurde aktuell, als in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon einmal massenhaft Asylanträge gestellt wurden (1992 ein Höhepunkt mit 438.191 Antragstellern). Schon 1981 hat sich der Verfasser in einem Leitartikel der Neuen Juristischen Wochenschrift (Seite 1897) wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt, ob das nach seinem damaligen Wortlaut vorbehaltlose und keinen Gesetzesvorbehalt kennende Asylgrundrecht des Artikel 16 Absatz 2, Satz 2 GG gegen andere Verfassungsgrundsätze verstößt. Die damaligen Überlegungen sind rechtlich immer noch aktuell und seien aktualisiert und im Auszug hier wiedergegeben:

Das Grundrecht auf Asyl ist als subjektiver, bis zum Bundesverfassungsgericht durchklagbarer Rechtsanspruch politisch verfolgter Ausländer anerkannt. Träger dieses Grundrechts sind alle Menschen mit Ausnahme der Deutschen, also alle Nichtdeutschen, die politisch verfolgt sind. Das Zuzugsrecht Deutscher hingegen richtet sich – auch bei politischer Verfolgung – nach dem Grundrecht auf Freizügigkeit in Artikel 11 GG.

Diese „Grundrechtslösung“ des Asylrechts ist die weitestgehende in der ganzen Welt. Sie hat nirgends Nachahmung gefunden.

Der Grundgesetzgeber ging davon aus, das Asylrecht werde nur in wenigen Einzelfällen (zum Beispiel politisch verfolgte Nichtdeutsche aus den damaligen Ostblockstaaten) akut. Die Vorstellung, dieses Grundrecht könnte einmal in großem Stil und dazu noch mißbräuchlich wahrgenommen werden, war damals absurd.

Inzwischen ist die Lage eine andere: Die Weltbevölkerung hat sich in den gut 65 Jahren seit Bestehen des Grundgesetzes von 2,5 auf 7,3 Milliarden knapp verdreifacht. Verdreifacht hat sich mithin auch die Zahl der potentiell Berechtigten aus dem Grundrecht des Artikel 16a. In vielen Ländern gibt es „Verfolgungen“ mit oder ohne politische Elemente. Die rechtsstaatlich verfaßten Demokratien bilden zahlenmäßig eine kleine Minderheit.

Nach Artikel 11, Satz 1 GG genießen alle Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Inhalt des Grundrechts auf Freizügigkeit ist nicht nur die Freizügigkeit im Bundesgebiet, sondern auch die Freizügigkeit in das Bundesgebiet. Sofern Deutsche im Ausland politischer Verfolgung unterliegen – ein Sachverhalt, der zur Zeit der deutschen Teilung an der Tagesordnung war, man denke an die Unterdrückung in der DDR –, so regelt Artikel 11 GG für sie die gleiche Problematik, mit der sich das Asylrecht im Hinblick auf politisch verfolgte Ausländer befaßt. Ein gravierender Unterschied zwischen beiden Normen liegt aber darin, daß Artikel 11 Absatz 2 GG sehr weitgehende Gesetzesvorbehalte enthält, die es ermöglichen, für solche Deutsche, die im Ausland politisch verfolgt werden, das Recht auf Zuzug in das Bundesgebiet bis hin zu einem Verbot der Einreise einzuschränken. Im einzelnen darf gesetzlich das für Deutsche geltende Freizügigkeitsrecht unter anderem „für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden“.

Diese Gesetzesvorbehalte sind durchaus angewandt worden, so etwa 1950 im Gesetz zur Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet. Vor dem Hintergrund der großen Fluchtbewegung aus der damaligen DDR wurde die Freizügigkeit der Deutschen eingeschränkt, der Zuzug in das Bundesgebiet grundsätzlich versagt oder Ostflüchtlinge bestimmten Lagern zugewiesen.

Dem parlamentarischen Rat war bewußt, daß bei der Bewältigung von Flüchtlingsströmen die praktische Handlungsfähigkeit des Staates verfassungsrechtlich höher steht als abstrakte Rechtsgewährleistungen zugunsten der

Zuwandernden.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung 1953 gebilligt und insbesondere betont, die Freizügigkeit könne im Einzelfall auch dann eingeschränkt bis versagt werden, wenn der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden – eine Problematik, die auch für die heutige Praxis des Asylrechts typisch ist. Der Umstand, daß ein DDR-Flüchtling der Sozialhilfe zur Last gefallen wäre, hätte nach Verfassungsrecht ausgereicht, ihm sogar dann den Daueraufenthalt in der Bundesrepublik zu versagen, wenn er in der DDR politisch verfolgt war. Aus der Begründung von 1953 ist zu ersehen, daß das BVerfG damals von einer „Bedrohung der sozialen und wirtschaftlichen Lage innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gerade durch die starke Zuwanderung aus der sowjetischen Besatzungszone“ ausging.

Vergleicht man diese für Deutsche geltende Verfassungsrechtslage einschließlich der darauf beruhenden Notaufnahmegesetzgebung mit der bisher aus dem damaligen Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 GG hergeleiteten Rechtsstellung asylsuchender Ausländer, so fällt ins Auge: Asylsuchende Ausländer sind verfassungsrechtlich gegenüber Deutschen, die außerhalb Deutschlands politisch verfolgt werden, massiv privilegiert. Während den Deutschen eine ganze Reihe schwerwiegender Gesetzesvorbehalte entgegengehalten werden kann, bestand das Zuwanderungsrecht politisch verfolgter Ausländer schlechthin. Für diese Privilegierung ist ein sachlicher Grund nicht ersichtlich. Angesichts der selbstverständlichen Pflicht eines Gesetzgebers, in erster Linie die Interessen und Belange des eigenen Volkes zu wahren, hätte es nahegelegen, eher umgekehrt zu verfahren. Die unterschiedliche und von der Sache her nicht zu rechtfertigende Regelung gleicher oder ähnlicher Probleme in den Artikeln 11 und (jetzt) 16a Absatz 1 GG verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.

Für eine wenigstens analoge Anwendung des Artikels 11 Absatz 2 GG auf das Asylgrundrecht spricht auch die weithin in Vergessenheit geratene und heute wohl auch als solche überholte Vorschrift des Artikels 119 GG. Dort wird die Bundesregierung „in Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen“ einstweilen ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen – und in besonderen Fällen sogar Einzelweisungen zu erteilen. Dem parlamentarischen Rat war also bewußt, daß speziell bei der Bewältigung von Flüchtlingsströmen die praktische Handlungsfähigkeit des Staates verfassungsrechtlich höher steht als abstrakte Rechtsgewährleistungen zugunsten der Zuwandernden. Darin liegt eine durchaus praxisnahe Wertung, die für die heutige Asylrechtsproblematik nutzbar gemacht werden kann: Sie erleichtert die Vorstellung, daß es durchaus mit den Intentionen des Grundgesetzgebers vereinbar ist, den für Deutsche geltenden Gesetzesvorbehalt des Artikels 11 Absatz 2 GG auch auf das Asylrecht entsprechend anzuwenden und das Asylrecht entsprechend einzuschränken.

Aus alledem folgt: Die Beherrschung der Asylzuwanderung ist kein Rechtsproblem, sondern kann uneingeschränkt frei politisch entschieden werden. Allenfalls internationale Abkommen sind zu beachten.






Dr. Wolfgang Philipp, Jahrgang 1933, war unter anderem Syndikus der Dresdner Bank und arbeitet seit 1976 als Rechtsanwalt in Mannheim. Er ist Mitglied der Juristenvereinigung Lebensrecht. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Ärzte und die Abtreibung („Der gebrochene Eid“, JF 47/12).