© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Nicht alle sind Akademiker und Fachkräfte
Armutszuwanderung: Bundessozialgericht spricht arbeitslosen EU-Bürgern Sozialhilfe zu / Geschäftsmodell Hartz-IV-Aufstocker

Christian Schreiber

Genau eine Million – so viele Flüchtlinge seien bis 8. Dezember im Erstaufnahme-System „Easy“ registriert und anschließend deutschlandweit untergebracht worden, verkündete die bayerische Sozialministerin Emilia Müller. Angesichts dessen fanden drei Urteile (B 4 AS 59/13 R, 44/15 R, 43/15 R) des Bundessozialgerichts (BSG) wenig Beachtung, die zusätzliche soziale und finanzielle Belastungen bringen werden. Die Kasseler Richter bestätigten zwar, daß EU-Ausländer nicht automatisch Anspruch auf Hartz IV haben – wohl aber das Recht auf „Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege“.

Massive Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme

Dies dürfe nicht verweigert werden, denn „im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, daß regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.“ „Das Urteil birgt Sprengstoff“, warnte Felix Schwenke, Sozialdezernent von Offenbach, in der FAZ. „Das Urteil könnte den Willen des Gesetzgebers konterkarieren, eine Einwanderung in die Sozialsysteme der Bundesrepublik zu verhindern.“ Der Bundestag müsse durch Klarstellungen reagieren: „Sonst entstehen neue soziale Verschiebebahnhöfe auf Kosten der Kommunen“, sagte der SPD-Politiker.

Noch im September hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) klargestellt, daß Deutschland Ausländern Sozialleistungen durchaus verweigern darf (Rs C-67/14 „Alimanovic“). Doch das BSG argumentiert, das Bundesverfassungsgericht habe den Staat verpflichtet, nicht nur das Existenzminimum für deutsche Bürger, sondern etwa auch für Asylbewerber zu sichern. Ein Sprecher des Landessozialgerichts Essen schätzt, daß das Urteil etwa 130.000 Menschen vor allem aus Bulgarien und Rumänien betrifft, die nun Sozialhilfe erhalten. Der Regelsatz für Alleinstehende der Sozialhilfe steigt zum Jahreswechsel um fünf Euro auf 404 Euro im Monat. Das würde Kosten für die Kommunen von 630 Millionen Euro im Jahr bedeuten.

Daß Sozialleistungen eine gängige Methode für Hunderttausende EU-Bürger sind, sich ihren Lebensunterhalt in Deutschland zu finanzieren, ist nicht neu. Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen, daß EU-Bürger mit bulgarischem Paß dem Sozialsystem überproportional zur Last fallen. Bulgarien trat wie Rumänien 2007 der EU bei, seit 2014 fielen die Hürden bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Von den 7,3 Millionen Einwohnern (Volkszählung 2011) leben inzwischen 211.648 (Stand August 2015) in Deutschland – ein Jahr zuvor waren es nur 170.923. Aus dem fast dreimal so bevölkerungsstarken Rumänien sind es 425.477 (2014: 329.725). Viele der eingewanderten Bulgaren und Rumänen haben zwar eine Arbeitsstelle – aber schon die Arbeitslosenquoten sind extrem unterschiedlich: Mit 16 Prozent liegt sie bei Bulgaren über dem Niveau der Ausländer in Deutschland insgesamt (14,6 Prozent). Bei Rumänen sind es nur 6,4 Prozent – was unter dem Niveau der Griechen, Italiener, Portugiesen und Spanier liegt (10,8 Prozent).

Die Akademikerquote bei den eingewanderten Bulgaren und Rumänen lag bislang bei 21 Prozent. Gleichzeitig gibt es aber eine wachsende Klientel aus den „EU-2“-Ländern (Behördenkürzel für Bulgarien und Rumänien), die die Steuerzahler zunehmend belastet: „Zwischen Juni 2011 und Juni 2014 ist die Zahl der SGB-II-Empfänger mit einer Staatsangehörigkeit der EU-2 Länder um 227 Prozent angestiegen. Gab es im Juni 2011 noch 19.454 Anspruchsberechtigte aus den EU-2 (Bulgaren: 8.433; Rumänen: 11.021), wurden für den Monat Juni 2014 insgesamt 63.695 EU-2-Bürger als Leistungsempfänger nach dem SGB II ausgewiesen (Bulgaren: 35.164; Rumänen: 28.531)“, heißt es in einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Im Juni 2015 waren es 57.417 bzw. 47.217 – eine Steigerung um fast zwei Drittel innerhalb eines Jahres. 

Von den hier lebenden EU-Bürgern aus Bulgarien sind derzeit 28,2 Prozent im Hartz-IV-Bezug, bei denen aus Rumänien 11,6 Prozent – was allerdings nur knapp über dem Niveau der acht 2004 beigetretenen EU-Länder liegt. Besonders beliebt ist das – ursprünglich von deutschen Ökonomen und Politikern im Sinne der Niedriglohnbranche erdachte – Geschäftsmodell „Hartz-IV-Aufstocker“. Dafür reicht eine kleine Mindestlohnbeschäftigung oder ein Gewerbeschein – den „Rest“ inklusive Krankenversicherung übernimmt der Steuerzahler via Hartz IV. Schon 17,9 Prozent der abhängig beschäftigten Zuwanderer aus Bulgarien finanzieren so ihren Lebensunterhalt. 2014 waren es nur 13,4 Prozent. Bei den Rumänen sind es mit 4,6 Prozent nur halb so viele wie den Ausländern insgesamt (8,9 Prozent).

Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat eigentlich nur derjenige, der mindestens ein Jahr in Deutschland gearbeitet hat. Seit der rot-grünen „Agenda 2010“ gibt es aber zahlreiche Hintertürchen – etwa für Selbständige, die vom ersten Tag an Anspruch auf aufstockende Leistungen haben, wenn ihre Einnahmen nicht ausreichen. Es reicht der Besitz eines Gewerbescheins, dann muß der Hartz-IV-Antragsteller der BA lediglich seine Bedürftigkeit anzeigen. Eine inhaltliche Prüfung findet nicht statt.

Ein großer Teil der Zuzügler gehört zur Ethnie der Roma

In Bulgarien gehören offiziell fünf Prozent und in Rumänien 3,3 Prozent der Bevölkerung zur Volksgruppe der Roma. Experten gehen allerdings von höheren Quoten aus, da wegen der Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung bei Volkszählungen oftmals falsche Angaben gemacht würden. Auch in den IAB- oder BA-Statistiken finden sich keine Angaben über die ethnische Zusammensetzung der EU-2-Zuwanderer. Doch der jährliche „Roma-Status“ von Berlin-Neukölln versucht seit 2011, etwas mehr Ehrlichkeit in den „Umgang mit den Zuzügen von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa“ einzubringen und zu verdeutlichen, „wie heterogen die Gruppe der Zuwanderer ist“.

Zuziehen würden „vor allem Personen, die aus prekären Verhältnissen in prekäre Verhältnisse kommen“, heißt es im Statusbericht 2014. „Die Zahl der zuwandernden Akademiker und Fachkräfte nach Neukölln ist gegenüber den bundesweiten Durchschnittswerten gering. Durchschnittswerte über die hochqualifizierten Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien und deren Beitrag zur Wirtschaftskraft in Deutschland sind für die Handlungserfordernisse vor Ort daher wenig hilfreich.“ Die ethnische Herkunft der Zuwanderer werde zwar nicht erfaßt, aber aus „der praktischen Erfahrung vor Ort kann angenommen werden, daß ein großer Teil der Zuzügler zur Ethnie der Roma gehört“.

Und für sie ist ein Leben als Hartz-IV-Aufstocker auch angesichts ihrer Familiengröße äußerst attraktiv – in den Balkanländern ließe sich nicht einmal als Lehrer oder Arzt ein vergleichbares Einkommen erzielen. In Bremen, Duisburg, Frankfurt oder Hamburg gibt es ähnliche soziale Brennpunkte wie in Berlin. Und: „Bei einer Aufenthaltsdauer von mehr als fünf Jahren ist der Lebensmittelpunkt Deutschland und ein ‘Aufenthalt nur zur Arbeitssuche’ kann verneint werden“, warnt der Roma-Statusbericht angesichts der deutschen Sozialrechtsprechung, die spätestens dann unbeschränkte „Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe“ vorsieht. Bereits jetzt kostet die Sozialhilfe für Ausländer fast sieben Milliarden Euro jährlich.

Roma-Statusberichte von Berlin-Neukölln: berlin.de

Foto: Roma-Musiker in Hamburg: Personen, die aus prekären Verhältnissen in prekäre Verhältnisse kommen