© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Spendable Juristen
Urteil mit Folgen: EU-Bürger haben einen Anspruch auf deutsche Sozialhilfe
Markus Brandstetter

Gehören Sie zu denen, die wissen, daß es das Bundessozialgericht in Kassel gibt? Die allermeisten Menschen hierzulande kümmern sich ja wenig bis überhaupt nicht um die Entscheidungen dieses Gerichts. Das ist ein Fehler, denn seine Entscheidungen können weitreichende Konsequenzen haben – nicht nur für Sozialhilfeempfänger, sondern auch für diejenigen, die arbeiten, die machen und tun und damit die Steuern verdienen, mit denen dann Sozialhilfe für jene finanziert wird, die nicht so viel tun.

Anfang des Monats haben die Kasseler Richter – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – eine Entscheidung gefällt, die für Deutschland gravierende Konsequenzen haben wird. Nach deutschem Recht sind arbeitslose EU-Ausländer eigentlich von Hartz IV ausgeschlossen. Denn man will nicht, daß Menschen aus ärmeren EU-Staaten nur deswegen nach Deutschland einreisen, um hier Sozialhilfeleistungen zu beziehen, die das reguläre Arbeitseinkommen in armen EU-Ländern um ein Vielfaches übertreffen.

Diese weise Vorsichtsmaßnahme hat das Bundessozialgericht nun vom Tisch gefegt. Jetzt haben arbeitslose EU-Ausländer in Deutschland sehr wohl Anspruch auf Sozialhilfe. Sie müssen nur lange genug hier leben und nichts verdienen. 

Die Präzedenzfälle, die die obersten Sozialrichter dabei geschaffen haben, sind so dermaßen schön, daß man ihre gewohnt umständlichen und langweiligen Urteilsbegründungen fast schon mit Vergnügen liest. Da haben wir also die vierköpfige Familie, die 2008 von Rumänien nach Gelsenkirchen gezogen ist und seitdem dort lebt. In Rumänien war der Mann erst Schlosser, dann Soldat, dann Taxifahrer, dann Tagelöhner in der Landwirtschaft und endlich arbeitslos. In dieser Funktion ist er nach Deutschland gezogen. Hier hat er zusammen mit seiner Frau zwei Jahre lang eine Obdachlosenzeitung verkauft, damit im Monat 120 Euro verdient, dann ein Abbruchunternehmen angemeldet, damit überhaupt nie etwas verdient. Das ist auch der aktuelle Stand. 

Da man weder in Rumänien noch in Deutschland ganz ohne Geld leben kann, haben die rumänischen Eheleute Grundsicherung beantragt. Diese haben sie aber nicht erhalten, also sind sie vor das Sozialgericht gezogen, das sie in erster Instanz jedoch abgeschmettert hat. Aber die Rumänen hatten Unterstützung, einen guten Anwalt und Prozeßkostenhilfe – anders geht so was gar nicht. Und so haben sie sich durch die Instanzen geklagt und ganz am Schluß endlich das erreicht, was sie immer schon wollen: Sozialhilfe erhalten, ohne dafür arbeiten zu müssen. 

In einer Entscheidung von spektakulärer Unlogik und wider allen Rechtsbrauch ist das Gericht in Kassel nämlich zu dem Schluß gekommen, daß die Rumänen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt haben – obwohl sie keine Aufenthaltserlaubnis haben, vollkommen arbeitsfähig sind und überdies geltendes Recht Sozialhilfeleistungen an genau solche EU-Bürger ausschließt.

Aber in einer Pirouette von an den Haaren herbeigezogenen Argumenten haben die Richter nun geurteilt, daß die Kläger gerade deshalb Anspruch auf Sozialhilfe hätten, weil sie – nach acht Jahren ohne Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis im Land – sich ihre Ansprüche durch ihren „verfestigten Aufenthalt“ gewissermaßen „ersessen“ haben.

Kaum weniger wunderbar ist der Fall einer Frau aus Bosnien. Die war irgendwann vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen, hatte hier einen Schweden geheiratet, wodurch sie zur EU-Bürgerin wurde, und war mit diesem dann nach Schweden gezogen. Irgendwann war die Beziehung mit dem schwedischen Mann dann vorbei, woraufhin die Frau mit mittlerweile drei Kindern wieder nach Deutschland zog und sich in Berlin-Neukölln mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Aber offenbar reichte das Geld hinten und vorne nicht, also beantragte sie Hartz IV, obwohl sie als Arbeitssuchende grundsätzlich von solchen Leistungen ausgeschlossen ist.

Eigentlich wäre der Fall hier zu Ende. Aber Gesetze bestehen nur aus Worten. Und Worte kann man auslegen. Da kann man, wenn man es nur richtig anstellt, vieles hineininterpretieren. Und mit diesem Wissen im Rücken ist man zu einem semantisch-logischen Höhenflug angetreten. 

Die Frau mit den bosnisch-schwedischen Wurzeln kann kein Hartz IV beantragen, soviel weiß man auch in Kassel, und ein Aufenthaltsrecht hat sie eigentlich auch nicht. Aber sie hat drei Kinder in der Schule. 

Jetzt ist es so: Die Kinder eines EU-Bürgers, die in die Schule gehen oder eine Ausbildung absolvieren, haben in einem EU-Land automatisch ein Aufenthaltsrecht. Also erstreckt sich dieses Aufenthaltsrecht, wie die sozialen Juristen messerscharf geschlossen haben, auch auf die Mutter, weil die ja ihre Kinder betreuen muß. Wenn aber eine Mutter aus einem EU-Staat, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, Kinder betreut, die ein Aufenthaltsrecht haben, dann muß logischerweise die Mutter ebenfalls ein Aufenthaltsrecht besitzen. Und eine Mutter mit Aufenthaltsrecht hat – was daraus messerscharf zu erschließen ist – Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. 

Und mit dieser fröhlichen Botschaft hat das Bundessozialgericht den Fall zurück an das Landessozialgericht verwiesen, das nun hoffentlich so entscheiden wird, wie man das in Kassel bereits mundgerecht vorgeschnitten hat.

Gesetze bestehen nur aus Worten. Und Worte sind normalerweise gratis. Die vom Bundessozialgericht gesprochenen Worte jedoch können sich als extrem teuer erweisen. Insbesondere dann, wenn sie so unvernünftig und rücksichtslos ausgesprochen wurden, wie in den hier genannten Fällen.