© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der konstruktivistische Zeitgeist hat auch seine unterhaltsamen Seiten. Dazu gehört die geschwundene Hemmung in bezug auf „Alternative Geschichte“. Neben einigen ganz ernsthaften Erwägungen über den weiteren Verlauf der Historie, falls der Herr nicht gekreuzigt worden wäre oder die Germanen darauf verzichtet hätten, das Römische Reich zu überrennen, gibt es Netzgemeinschaften, die alles beieinander haben, um einen Englischen Bürgerkrieg nachzuspielen, der an Stelle des Spanischen in den 1930er Jahren stattgefunden hat. Und dann natürlich noch die Menge der Phantasien, die unsere Unterhaltungswelten bevölkern: Wellington, der mit Hilfe Weißer Magie Napoleon besiegt, eine kommunistische Schweiz, die ihre Nachbarn unterjochen will, oder der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand, der nie einem Attentat zum Opfer fallen mußte.

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Die Kommentare zum Wahlerfolg des Front National wirken deshalb so hilflos, weil – Antifaschismus hin oder her – ein Drittel der Bevölkerung als rechtsextremistisch zu bezeichnen, ganz neue Fragen aufwirft.

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Bildschirmfasten, Medienaskese, Netzentzug, ganz gleich, um welche Form des freiwilligen oder unfreiwilligen Verzichts es sich handelt: Er kann angesichts der Allgegenwart und dauernden Verfügbarkeit niemals die Wirksamkeit dessen erreichen, was früher „Sendepause“ war.

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Zu den heiklen, aber eben auch besonders faszinierenden Themen der „Alternativen Geschichte“ gehören Fiktionen, in denen der Zweite Weltkrieg anders als tatsächlich endete. In Großbritannien und den USA scheint dieses Thema aus Gründen, die eine genauere Untersuchung verdienten, besonders virulent zu sein. Eine Karriere als Bestsellerautor konnte Robert Harris jedenfalls 1992 mit seinem Roman „Fatherland“ beginnen, der in einem Europa nach dem deutschen Endsieg spielt. Pünktlich zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes hat dann der republikanische US-Politiker Newt Gingrich einen Band mit dem Titel „1945“ vorgelegt, der einen ähnlichen Handlungsrahmen aufweist, insofern bei ihm die Vereinigten Staaten zwar über Japan gesiegt hatten, aber die Niederlage der Sowjetunion gegen Deutschland nicht verhindern konnten. Die Folge war ein Kalter Krieg zwischen Wa-shington und Berlin. Wesentlich radikaler ist der Ansatz von „The Man in the High Castle“, einer in Amerika erfolgreichen Fernsehserie, die jetzt auch in Deutschland ausgestrahlt wird. Hier geht es um ein von Japan und Deutschland gemeinsam besetztes Amerika. Die Vorlage dafür bildet ein Klassiker des Genres, der schon 1962 erschienene Roman desselben Titels von Philip K. Dick (dt.: „Das Orakel vom Berge“). Dick hatte sich seine eigene Gegenwart unter den Bedingungen von Teilung und Okkupation – im Osten das „Größere NS-Reich“, im Westen die „Japanischen Pazifikstaaten“, dazwischen ein schmaler Streifen Niemandsland –, Umerziehungsmaßnahmen, Kollaboration und Widerstand der unterworfenen Bevölkerung ausgemalt.

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Beruhigend: Legoklötze, Figuren der Firmen Schleich und Playmobil sind nach wie vor am begehrtesten auf dem Kindergabentisch.

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Bildungsbericht in loser Folge LXXXII: Es gibt in der Pädagogik etwas wie erlernte Hilflosigkeit. Dazu gehört auch das Vergessen oder Verdrängen treffender Begriffe: „Verstocktheit“ zum Beispiel, um die Weigerung des Kindes zu bezeichnen, das kann, aber mit aller Kraft nicht will. Hilfreich ist auch der Hinweis auf den biblischen Kontext, in dem ein Mensch regelmäßig „verstockt wird“; man war sich also der Rätselhaftigkeit dieses Verhaltens früh bewußt und glaubte deshalb an eine äußere Ursache. Sehr viel weiter sind wir im Grunde nicht.

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Für die etablierten Parteien Frankreichs wirklich unangenehm ist die Tatsache, daß sie Marine Le Pens Feststellung, sie habe es immer gesagt, nicht widersprechen können.

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Interessant an der Verfilmung von „The Man in the High Castle“ sind die Verfremdungseffekte, die dadurch entstehen, daß zwar die ganze NS-Ikonographie in Erscheinung tritt, die SA wie die SA, die SS wie die SS aussieht und die Physiognomien die erwartbaren sind, sich das deutsch besetzte Amerika von 1962 aber mit seinen Straßenkreuzern, Hochhäusern, Lichterreklamen, jungen Männern in Jeans und Windjacke, jungen Frauen mit Pferdeschwanzfrisur kaum vom tatsächlichen unterscheidet. Damit nähert sich das Konzept wenigstens an einem Punkt jener Tabuzone, die auch für die „Alternative Geschichte“ die Möglichkeit einer „NS-Perestroika“ markiert. Der englische Historiker Hugh Trevor-Roper hatte unter dem Eindruck der Politik Gorbatschows in der Sowjetunion einmal den Gedanken erwogen, daß sich das nationalsozialistische Regime im Fall seines Triumphs und nach Hitlers Tod von innen hätte reformieren können. Erwogen, mehr nicht.

Die nächste „Gegenaufklärung“ von Karlheinz Weißmann erscheint am 25. Dezember in der JF-Ausgabe 53/15-1/16.