© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Die Seele verkauft
Hanser-Verlag: Leser sollen ein Buch von Tilman Rammstedt digital mitschreiben
Richard Stoltz

Wirklich, der neue Chef des Münchner Hanser-Verlags, Jo Lendle ist ein modern denkender Herr. Jetzt hat er seine erste digitale Neuerung vorgelegt: Liebhaber von Hanser-Romanen sollen künftig das betreffende Buch nicht nur kaufen und lesen, sondern sie sollen schon an seiner Entstehung via E-Mail aktiv mitwirken, natürlich ebenfalls gegen Bezahlung. 

In einem Gespräch mit dem Netzportal literaturcafé.de erläuterte der Verleger seine smarte Idee. Vom 11. Januar bis zum 8. April 2016, so erfährt man, wird der Hanser-Autor Tilman Rammstedt seinen neuen Roman unter dem Titel „Morgen mehr“ schreiben. Potentielle Interessenten können sich jederzeit in den Schaffensprozeß einschalten; Rammstedt wird jeden Satz des entstehenden Kunstwerks sofort ins Internet stellen und auch während des Schaffens jederzeit ansprechbar sein und Änderungsvorschläge dankend entgegennehmen beziehungsweise mit dem Interessenten intensiv diskutieren.

Am 9. Mai 2016 soll dann das fertige Werk als Buch erscheinen. Freilich könnten die E-Mail-Mitarbeiter, führt Lendle aus, nicht völlig sicher sein, daß es sich um denselben Text handle, den sie vorher zusammen mit dem Autor ausgearbeitet hätten. Schließlich gebe es ja auch noch ein traditionelles Verlagslektorat, und auch das könne noch konzeptionelle oder stilistische Änderungen vornehmen. Das mit den freien Mitarbeitern digital erarbeitete Buch und das im Buchhandel zu erwerbende Buch seien also nicht identisch. Originalton Lendle: „Jedes Tageskapitel wird vor der Veröffentlichung selbstverständlich lektoriert. Aber natürlich hat der Text kaum Zeit zum Abhängen. Für die Buchausgabe wird Tilman Rammstedt das Ganze daher noch einmal in der Zusammenschau überarbeiten.“

 Nun, wir verstehen schon: Das ganze Theater um die sensationelle Digitalfassung ist nichts weiter als ein Reklamegag. Er mag vielleicht zusätzlich etwas Geld einbringen, aber dem Autor Rammstedt wird es trotzdem nicht gut tun. Er hat hier schlichtweg wie einst der Doktor Faustus seine Seele verkauft.