© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Pankraz,
Polyklet und die verwundete Amazone

Das unbestreitbar größte, stolzeste. umfassendste, rundeste Erinnerungsdatum des zu Ende gehenden Jahres 2015 war gar keines, zumindest was die exakte Datierung betrifft: Vor 2.500 Jahren wurde der Bildhauer Polyklet geboren. Die Historiker sagen freilich, der Mann habe „etwa“ kurz vor 480 v. Chr, das Licht der Welt erblickt. Genau weiß man es leider nicht. Aber gerade deshalb hätte sich 2015 – nach Meinung sämtlicher Kunstliebhaber – sehr gut als Jubiläumsjahr geeignet, Nun, man könne die Feiern ja auch 2016 ohne allzuviel Skrupel nachholen. 

Gefeiert werden jedoch sollte Polyklet unbedingt, das meint auch Pankraz. Denn ohne ihn gäbe es die bildende Kunst des Abendlands, so wie wir sie kennen, gar nicht; in ihrem Fokus  stand und steht bekanntlich nicht zuletzt die Darstellung des menschlichen Körpers, des nackten menschlichen Körpers, und Polyklet war derjenige, der das als erster in unzähligen eigenen Schöpfungen vorgeführt und in theoretischen Schriften auch begründet hat, und zwar in solch überzeugender Weise, daß er in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden danach nie einen frontalen Widerspruch erfahren hat. 

Es gab immer nur Schüler des Polyklet, Verfeinerer und sonstige Spezifizierer seiner Statuen und Schriften, nie einen Apostaten. Im klassischen Athen des Perikles war er die künstlerische Autorität an sich und überhaupt – und dabei kannte man nicht einmal seinen Geburtsnamen! Alle redeten ihn nur als „Polykleites“ an, und das hieß „der Berühmte“, der „Vielberühmte“. Auch über seiner Herkunfts- und Heimatprovinz schwebte von Anfang an ein Geheimnis. Stammte er aus Sikyon oder aus Argos? Seine Söhne, die er alle zu Bildhauern in seinem Stil ausbildete, werden jedenfalls pauschal als „Argiver“ registriert.


Von seinem Werk, durch die Bank Bronzestatuen nackter menschlicher Körper, sind keine Originale erhalten, lediglich in Olympia wurden zwei „Basen“ (Unterschenkel, Füße, Boden) ausgegraben, die man ihm zuschreibt. Ansonsten kennen  wir Polyklet nur aus zahlreichen, meist römischen Marmorkopien, die nun allerdings schier überdeutlich zeigen, welch gewaltigen Einfluß der Vielberühmte auf seine Zeit ausgeübt hat. Er war der absolute Star des klassischen Zeitalters. Plinius berichtet von einem Wettstreit der berühmtesten Bildhauer in Athen, an dem außer Polyklet unter anderen auch der große Phidias teilnahm; Polyklet siegte.

Fast noch mehr als durch seine eigenen Werke hat er aber wohl durch seine Arbeit als Ästhetik-Professor und Kunsterzieher gewirkt. Sein einschlägiges Buch „Kanon“, in dem er die „idealen“ Maßverhältnisse des menschlichen Körpers, doch auch viel Praktisches aus dem künstlerischen Handwerksbetrieb beschreibt, wurde zur Bibel aller Kunststudios über die Zeiten hinweg. Daran konnte nicht einmal der Umstand etwas ändern, daß auch diese Schrift nur sehr bruchstückhaft überliefert ist, einzig noch durch einige kurze Originalzitate und sonst nur noch durch das Studium fremder Erwähnungen entschlüsselt werden kann.

Es geht darin, wie gesagt, um die Feier des nackten menschlichen Körpers, was aber bei weitem nicht heißt, daß hier die Regeln der Scham und des Anstands nach irgendeiner Richtung hin verletzt wurden. Polyklet war ein überzeugter Bürger des perikleischen Athen und teilte voll dessen Scham-Gebote, wie sie beispielsweise in der homerischen Ilias exemplifiziert wurden. Wenn dort junge Dienerinnen zum Beispiel einen der Helden des Krieges „badeten“, so hieß das, daß sie ihm vorsichtig ein bißchen Wasser über die Schultern gossen, während der Held selbst höchst gschamig in der Wanne kauerte.

Die Nacktheit der Wettkämpfer in Olympia (von dem die Frauen strikt ausgeschlossen blieben) galt zunächst lange Zeit als „lakedämonische Unsitte“, die einem die Spartaner aufs Auge gedrückt hatten. Auffällige Voyeure mußten mit härtesten Strafen rechnen, wovon nicht zuletzt die Sagen zeugen: Erymanthos erblindet, als er Aphrodite beäugt, desgleichen Teiresias beim heimlichen Betrachten der badenden Athene; Aktaion, der zufällig die nackte Artemis zu Gesicht bekommt, wird von dieser in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen.


Auch das klassische Griechenland paßte sehr wohl in den Rahmen jener „anthropogischen Grundkonstante“ (Hans Peter Duerr), wonach die sexuelle Scham ein allgemein-menschliches Phänomen ist, das in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gleich intensiv waltet. Da der Mensch nicht, wie die meisten übrigen Säugetiere, eine limitierte Brunftzeit hat, bedarf es eben spezieller Kulturgebote, um Platz für ein geordnetes, effektives Zusammenleben zu schaffen. Und dessen Hauptvorschrift ist offenbar die Nacktheitsscham, die den Sex phasenweise ausknipst und dadurch erst andere soziale Tätigkeiten ermöglicht.

Was seit Polyklet dazukam, war die Etablierung und der künstlerische Lobpreis eines spezifischen, nämlich sportlichen oder eventuell auch militärischen Zusatz-Eros, der sich zwar durchaus sexuell aufladen kann, dessen Existenz aber – wie auch der von Platon gefeierte „pädagogische Eros“ – gewissermaßen auf eigenen Füßen steht. All die von Polyklet geschaffenen gloriosen Statuen von Rennläufern, Speerträgern, Diskuswerfern und Wagenlenkern mögen auch eine handfeste sexuelle Aura haben, doch ihre immanente Schönheit verweist auf andere, weniger immanente Antriebe: Kampf, Agon, Welteroberung. 

Die so mächtig gewordene Homosexuellen-Lobby, wenigstens diejenigen in ihr, die etwas von Kunst verstehen, feiern Polyklet als einen der Ihren, benutzen ihn als Aushängeschild. Indes, sie täuschen sich. Plinius erzählt, daß bei jenem Kampf der künstlerischen Giganten in Athen Polyklet souverän über Phidias gesiegt habe – mit der Statue einer schönen jungen Amazone, die im Kampf gegen einen Sarmaten verwundet zusammengebrochen ist und sich trotzdem bis zum letzten Atemzug ihrer Haut erwehrt. Eine Marmorkopie ist nicht erhalten.