© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Lieber ohne Kippa
Zuwanderung: Die Warnungen vor dem aus arabischen Ländern importierten Antisemitismus werden lauter / In Berlin ist der längst Alltag
Elena Hickman / Christian Vollradt

Sie steht zwischen Kichererbsen, koscheren Brotaufstrichen und jeder Menge Matzen. Ihre dunklen Haare werden von einem glitzernden Haarband zurückgehalten und obwohl sie heute eigentlich genug Zeit hat, möchte sie nicht lange im Geschäft bleiben: „Wenn ich hier einkaufen war, beeil ich mich, wieder wegzugehen“, gibt die etwa 30jährige Frau zu. Es sei besser, wenn nicht so viele sehen würden, wo sie gerade war. Sie schaut dabei freundlich, aber ihre dunklen Augen wandern immer wieder unruhig zur Fensterfront, die auf die Straße zeigt. Das koschere Geschäft in Berlin ist weder besonders groß noch einladend. Wer den Laden betritt, wird von zwei Verkäufern zuerst einmal mißtrauisch beäugt. Dazu haben die beiden auch allen Grund. 

Wer sich in der deutschen Hauptstadt als Jude zu erkennen gibt, kann Probleme bekommen. Er muß mit verbalen Beleidigungen, Pöbeleien, aber auch körperlichen Attacken durchaus rechnen. Sind das die vielbeschworenen „Gespenster der Vergangenheit“, kriecht da etwas aus dem „Schoß, der noch fruchtbar ist“? Eher ist es die Gegenwart, die sich so äußert und leider wohl auch – so befürchten jüdische Berliner – die Zukunft. „Es wird hier in Deutschland gefährlicher. Es sind aber nicht die Deutschen, die unheimlich sind, die gefährlich sind“, sagt die junge Frau im koscheren Laden. „Einer Bekannten von mir wurden die Scheiben ihrer Wohnung mit Steinen eingeworfen. Und noch verfaultes Gemüse hinterher durch die kaputten Fenster. Sie wohnt in Wedding.“ 

Wedding. Knapp 84.000 Einwohner, fast jeder zweite von ihnen hat einen Migrationshintergrund, in einzelnen Gebieten des Bezirks sind es sogar deutlich mehr. Der „neue“ Antisemitismus, der sich hier zeigt, hat nichts mit dem Klischee vom rechtsradikalen, glatzköpfigen Springerstiefel-Träger zu tun. Dieser Antisemitismus ist jung, islamisch und in der Regel arabisch. 

„Auf dem Spielplatz werden meine Kinder beschimpft. Das ist normal“, meint ein jüdischer Mann, Ende 30, im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. „Ich sage meinen Kindern, sie sollen über ihrer Kippa eine Mütze anziehen, wenn sie rausgehen. Das ist einfacher und auch sicherer. Ich schäme mich nicht dafür, Jude zu sein, und ich hab auch keine Angst. Aber es ist sicherer für meine Kinder.“ Die junge Frau im Geschäft ergänzt: „Seit letztem Sommer, seit dem Krieg in Israel, wird es immer schlimmer.“

Tatsächlich registrierten die Behörden in Deutschland im vergangenen Jahr einen deutlichen Anstieg von Delikten, die unter dem Sammelbegriff „Israel-Palästinenser-Konflikt“ zusammengefaßt wurden: 2013 gab es 41 Fälle, 2014 waren es 575. Davon waren 91 mit Gewalt verbunden. 331 dieser 575 registrierten Straftaten werden der politisch motivierten Kriminalität von Ausländern zugerechnet. 

Besonders augenfällig wurde dies, als überwiegend  arabischstämmige Jugendliche bei Demonstrationen von Sympathisanten der Terrororganisation Hamas in deutschen Städten Parolen wie „Juden ins Gas“ oder „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ skandierten. Hinzu kamen gewaltsame Übergriffe wie etwa der Brandanschlag zweier Palästinenser auf eine Synagoge in Wuppertal.

Doch längst nicht jeder Vorfall findet Eingang in die Statistik. Die Dunkelziffer ist hoch, denn viele Taten werden erst gar nicht angezeigt. Und: Die potentiell Betroffenen meiden Gefahrengebiete. „Ich suche mir mein Umfeld sehr bewußt aus. Ich gehe dahin, wo mir so etwas nicht passieren kann“, äußert eine aus Rußland stammende Jüdin, die in Berlin lebt. Bestimmte Ecken in Neukölln, Kreuzberg oder Wedding sind für sie daher tabu.

„Unser Land darf              sich nicht verändern!“

 Vor nicht allzu langer Zeit noch feierten Medien unisono, wie angesagt Berlin bei jungen Israelis ist: relativ günstige Mieten, vergleichsweise niedrige Lebenshaltungskosten, dazu ein reichhaltiges Angebot an Kultur und „Szene“. Daran hat sich im Prinzip auch nichts geändert. Doch mittlerweile mischen sich nachdenklichere Töne unter die Begeisterung. Der Deutschlandfunk berichtete jüngst von einem jungen Israeli, der innerhalb von zehn Monaten viermal angegriffen worden sei: „2012 war er zum ersten Mal in Deutschland, den Unterschied zu heute findet er enorm.“  

Zu spüren bekommen diesen Klimawandel auch die Fußballer des jüdischen Sportvereins TuS Makkabi – in dem keineswegs ausschließlich Juden spielen. Partien wurden abgebrochen, wegen antisemitischer Beschimpfungen, oder sogar weil es zu Schlägereien kam. „Das war beide Male gegen Mannschaften, wo der Großteil einen nahöstlichen Migrationshintergrund hat“, berichtete ein Makkabi-Spieler. 

Bereits im Sommer veröffentlichte der Tagesspiegel den Brandbrief einer jüdischen Berliner Lehrerin, die darin ihre Erfahrungen mit Antisemitismus im Unterricht schilderte. Bei bestimmten Themen „startet gleich eine kleine Intifada im Klassenraum“, beliebtestes Schimpfwort auf dem Schulhof und im Unterricht sei „Du Jude!“ Ihre Schule charakterisierte die Pädagogin wie folgt: „Extrem hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, hoher Anteil von Schülern aus sehr bildungsfernen Schichten, unter beiden Kategorien ein sehr hoher Anteil an arabischen Kindern.“ 

Ihrer Sorge über diese Entwicklung machen sich auch Funktionäre jüdischer Organisationen Luft. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, warnte vor einer Zunahme von „arabischstämmigem Antisemitismus“ und forderte Obergrenzen beim Zuzug. „Unter den Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, stammen sehr viele aus Ländern, in denen Israel zum Feindbild gehört. Sie sind mit dieser Israelfeindlichkeit aufgewachsen und übertragen ihre Ressentiments häufig auf Juden generell“, sagte Schuster. 

Noch deutlicher wurde die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. In einem Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) sowie die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, forderte sie von der Politik, „sich der Tatsache zu stellen, daß speziell jene Menschen, die in diesen Tagen aus dem Nahen Osten zu uns kommen, aus Regionen stammen, in denen Christenfeindlichkeit und Antisemitismus gepredigt werden und fester Bestandteil der Sozialisierung sind.“ Viel zu lange, so Knobloch weiter, „haben wir eine von Multikulti-Romantik geprägte ‘Integration’ gepflegt, die in Wahrheit den Raubbau an unseren eigenen Wertvorstellungen zur Folge hatte.“ Die Vorsitzende der Müncher Gemeinde appellierte an die Parteien, „das Thema Patriotismus und den Erhalt unserer Kultur und unserer Werte noch viel stärker als bisher auf die Agenda zu setzen.“ Ständig werde darüber debattiert, „wie sich unser Land verändern wird. Ich bin der festen Überzeugung: Unser Land darf sich nicht verändern.“

Warnungen vor „importiertem Antisemitismus“ sind nicht neu. Was viele Betroffene irritiert oder gar ärgert, ist die immer noch herrschende Passivität hierzulande. Der gesellschaftliche Grundton ist defensiv. Wie resümierte die junge Frau im koscheren Laden? „Von den Deutschen wird man eher gewarnt, daß man in der Gegend keine Kippa tragen soll. Die sagen dann: ‘Es ist besser, wenn du das abziehst, weil du sonst Ärger bekommst.’“





Fallzahlen

Die Berliner Polizei zählte in diesem Jahr (Stand 3. Dezember) 136 antisemitische Straftaten. Davon entfallen 118 auf die politisch motivierte Krimiminalität (PMK) rechts und 15 auf die politisch motivierte Ausländerkriminalität (PMAK), drei Fälle lassen sich nicht zuordnen. Unter den rechtsextrem motivierten Delikten rangieren an der Spitze Volksverhetzung (66), Sachbeschädigung (19) sowie 19mal „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“. Dies unter anderem, weil beispielsweise jede Hakenkreuzschmiererei automatisch „rechts“ zugeordnet wird. Bei den Gewalttaten stehen vier Fälle aus der PMAK zwei Fällen aus der PMK-rechts gegenüber. 

Unterdessen verhängte das Berliner Sportgericht gegen den 1. FC Neukölln Sperren, Punktabzug und eine Geldstrafe wegen Tätlichkeiten gegen Spieler des TuS Makkabi im Oktober.

Foto: Polizisten vor der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße, Demonstranten auf antiisraelischer Kundgebung: Deutlicher Anstieg von politisch motivierten Straftaten