© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Die transatlantische Sicht der Dinge
Der Historiker Karl Schlögel sieht in der Ukraine-Krise nur einen Schuldigen: Putins Rußland
Thorsten Hinz

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat seinem neuen Buch einen Titel gegeben, der nach Dezisionismus und Warnung in letzter Stunde klingt: „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“. Ganz so schlimm kommt es dann doch nicht. Die meisten der über 300 Seiten füllen Aufsätze über ukrainische Städte und Landschaften. Der Autor liest in gewohnter Qualität die Zeit im Raum, indem er dessen historische, kulturelle, politische Schichten freilegt. Manche Texte sind älteren Datums und schon andernorts erschienen.

Zwei ausführliche Einleitungs- und ein kurzes Schlußkapitel („Der Schock. Den Ernstfall denken“) bilden die brüchige Klammer der Aufsatzsammlung. Schlögel äußert sich hier zur jüngsten Entwicklung, zur Maidan-Bewegung und insbesondere zum Krim-Konflikt. Die Ukraine sei in der Vergangenheit nie als selbständige politisch-historische Einheit wahrgenommen worden. Die eigene Ignoranz gibt Schlögel ausdrücklich zu. 

Seine übrigen Ausführungen haben das Niveau der antirussischen Pressepolemik. Putin sei ein Berserker, unfähig, sein Land zu reformieren, eine westlich-amerikanische Einkreisung herbeiphantasierend, sich in militärische Aggressionen hineinsteigernd. Die russische Besetzung der Krim sei auch ein Angriff auf Europa. Tatsächlich? Kennt Schlögel nicht Zbigniew Brzesinzskis Buch „Die eizige Weltmacht“, wo der US-Stratege seine Überlegungen zur geopolitischen Einhegung Rußlands durch die Ablösung der Ukraine offen darlegt? Wobei es auch darum geht, den Europäern eine hypothetische Rußland-Option zu nehmen und so ihre Emanzipation von den USA zu verhindern. Schlögel widerspricht sich selbst oder leugnet sein besseres Wissen, um im medialen Meinungsstrom mitzuschwimmen. In einem vor 15 Jahren verfaßten Aufsatz über Jalta heißt es noch: „Die Krim (...) ist Teil einer Reichsgeschichte Rußlands und der Sowjetunion. Auch das ist mehr als nur Kolonialismus und Projektion eines russischen Orientalismus.“ Die fünf Milliarden Dollar „Demokratie-Investition“, die laut einer hochrangigen Mitarbeiterin des State Department gewiß nicht selbstlos aus den USA in die Ukraine geflossen sind, läßt der Autor gleichfalls unter den Tisch fallen. 

Karl Schlögel trägt seit Jahrzehnten mit großartigen Publikationen zum besseren Verständnis Rußlands bei. Mit seinem neuen Werk aber macht er sich zum transatlantischen Propagandisten und fällt weit hinter die aktuellen Rußland-Bücher von Thomas Fasbender „Freiheit statt Demokratie“ und Dimitrios Kisoudis’ „Goldgrund Eurasien“ zurück.

Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen.Carl Hanser Verlag, München 2015, gebunden, 352 Seiten, 21,90 Euro