© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Die russische Sicht der Dinge
Ein russischer Fernsehjournalist hält die westliche Einflußnahme auf die Ukraine für den Quell des Übels
Helmuth Roewer

Nikolai Starikows Buch ist eine Herausforderung. Es beschreibt in seinem Kerngehalt den politischen Umsturz in der Ukraine zwischen Dezember 2013 und April 2014. Zur Erinnerung: In dieser Zeit wurde der gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch gestürzt und durch Regierungen ersetzt, von denen bis heute nur eines sicher ist: nämlich daß sie das Staatsgebiet der Ukraine niemals unter ihre Kontrolle bekamen und das sie zudem die Abspaltung der Krim und deren Selbstunterstellung unter Rußland nach einem einschlägigen Referendum hinnehmen mußten.

Über diese Ereignisse gibt es hierzulande vor allem einen Schwall von gleichlautenden Meldungen, die durch die Bank Putins Rußland als den Verursacher dieses Ungemachs beschreiben. Leisere Stimmen bemerken hingegen, daß Ursache und Wirkung auch ganz anders gewesen sein könnten. In Starikows Buch kommt diese Seite massiv zu Wort. Es ist die russische Sicht der Dinge und zwar nicht irgendeine, sondern der Autor als bekannter Fernsehjournalist und St. Petersburger Politiker bürgt dafür, daß zu lesen ist, was das offizielle Rußland unter der Herrschaft des Wladimir Putin zu den Dingen zu sagen hat. Hiermit wird nicht eine Sekunde hinter dem Berg gehalten.

Was Starikow unter solchen Vorzeichen bietet, wird nicht jeden erfreuen. Starikow läßt keinen Zweifel daran, daß nach seiner Lesart die Abspaltung der Ukraine aus der engen wirtschaftlichen und politischen Verbindung mit der Russischen Föderation ein von langer Hand geplanter Prozeß war. Als die Hauptverantwortlichen hierfür benennt er die USA, Großbritannien, die EU und die von diesen Staaten und Staatenbünden gesteuerten und gesponserten „NGOs“, die Nichtregierungsorganisationen, die er im einzelnen benennt. 

Es sind die üblichen Verdächtigen, und Starikow erspart dem Leser nicht die Parallelen zu den Ereignissen im Nahen Osten und Nordafrika, wo in den vergangenen Jahren nach der Jahrtausendwende ein Regime nach dem anderen aus dem Tritt gebracht wurde. Stets sind es dieselben Akteure. Wie sie untereinander verknüpft sind, ist mittlerweile Gegenstand von Spezialliteratur, wie dem Buch von Friederike Beck: „Das Guttenberg-Dossier“, das ganz anders, als der Titel vermuten läßt, ein „Who is who“ US-gesteuerter Einflußnahmeorganisationen ist. Der deutsche Leser mag ergänzen, daß einige dieser Namen und Organisationen auch bei der gegenwärtigen Flüchtlingslawine in Europa immer wieder als Hintergrundfiguren auftauchen.

Zurück in die Ukraine: Starikow hebt wiederholt hervor, wen er hier für den Quell allen Übels erblickt: den Westen Dabei wird der Leser immer wieder mit den selben Tatbeständen konfrontiert, wobei der Autor die indirekte Beweismethode bevorzugt: Wer, wenn nicht diese da? So lautet das Verdikt. Hält man dagegen, was im Westen normalerweise verlautbart wird, wo es beständig tönt: Wer, wenn nicht Rußland? Das ist Stoff zum Nachdenken.

Rußland betreibt seit 2013 offensive Interessenpolitik

Doch auf diese Auseinandersetzung bleibt das Werk nicht beschränkt. Zu seinem Erstaunen darf der Leser zur Kenntnis nehmen, daß aus russischer Sicht eine Änderung der russischen Außenpolitik seit etwa 2013 eingeleitet sei. Rußland habe die defensive, reaktive Außenpolitik verlassen und betreibe seine Interessenpolitik nunmehr offensiv. Was mag damit gemeint sein? Nun, Starikow gibt die Antwort: Einsatz der Gas- und Ölpreiswaffe, Einsatz der US-Staatsanleihen, die im großen Stil in Moskau gebunkert seien, Angebot einer großen Freihandelszone von Wladiwostok bis zur Bretagne an die Europäer und – nicht zuletzt – Ausstieg aus dem Dollar als Zahlungsmittel im großasiatischen Raum. 

Das wirkt nur auf den ersten Blick bizarr, in Wirklichkeit ist es Wirtschaftsmachtpolitik, und die Welt ist dergleichen seit gut hundert Jahren gewohnt, nur mit umgekehrten Vorzeichen und den Kommandozentren in New York und London. Ist das Szenario realistisch? Für Deutschland werde es, das ist der eigentliche Wert der Lektüre, höchste Zeit, seine eigenen Interessen zu definieren. Das amerikanische Fähnchen herunterzuholen und statt dessen das russische aufzuziehen, wie es auf Pegida-Demonstrationen als Forderung laut wird, ist allzumal zu simpel. Ebenso simpel und fatal wie die Schnapsidee, gegen den Landkoloß Rußland mit einer nicht kampfkräftigen deutschen Armee in einen amerikanischen Containment-Krieg zu ziehen.

Nikolai Starikow: Die Tragödie der Ukraine. Ein geopolitisches Tagebuch. Zentrale Friedenspolitik, Eschwege 2015, gebunden, 200 Seiten, 14,80 Euro