© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Der Frieden ist fragil
Terroranschläge von Islamisten in Paris: Eine Nachbetrachtung aus französischer Sicht
Alain de Benoist

Nach dem Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris im Januar dieses Jahres defilierten Millionen Menschen durch die Großstädte Frankreichs und bekundeten „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“). In den Tagen, die auf die Terroranschläge vom 13. November folgten, war dergleichen kaum zu beobachten, die Menschen wirkten von dem Schock wie gelähmt. An einer „nationalen Ehrung“, angeführt von François Hollande im Ehrenhof des Invalidendomes, nahmen lediglich die Familien der Opfer, also vielleicht ein paar hundert Personen teil. Am Folgetag des Bataclan-Attentats blieben die Pariser quasi stumm, und die Stadt war verödet: In den Geschäften brachen die Umsätze ein, Theater und Kinos blieben leer. Der offensichtliche Grund dafür: Die Attentate vom Januar und die vom November waren sehr verschieden.

Im Januar massakrierten islamistische Terroristen Journalisten, denen sie – infolge der Publikation von Mohammed-Karikaturen – „Blasphemie“ vorwarfen; darüber hinaus töteten sie Juden, dies einzig aus dem Motiv heraus, daß sie Juden waren. Es war für die Demonstranten also ein leichtes, sich „Charlie“ zu nennen, wo sie es in der Realität doch ganz offensichtlich nicht waren.

Im Gegensatz dazu hatten am 13. November die Terroristen keine speziellen Ziele ausgewählt. In einem Restaurant und im Club „Bataclan“ erschossen sie wahllos Menschen, die dort ein Rockkonzert hörten, gleich welchen Alters, Geschlechts, Berufs, Glaubens oder Herkunft sie waren. So verstanden alle plötzlich, daß nunmehr jedermann ein potentielles Ziel würde sein können. Es war eine eiskalte Ernüchterung.

Auch wenn die Täter in beiden Fällen junge männliche Islamisten waren, so waren die Motive gleichwohl verschieden. Die Attacke gegen Charlie Hebdo war „religiöser“ Natur, die gegen das Bataclan dem Wesen nach politisch. Am 13. November wollten die Terroristen das militärische Engagement Frankreichs in Syrien ahnden. Mithin war es also die französische Außenpolitik, die ins Visier geraten war. Die „Logik“ der Terroristen dabei ist einfach: Den Staatschef können wir nicht töten, also töten wir jene, die ihn gewählt haben. Sie tragen den Krieg zu uns, wir führen Krieg bei ihnen. 

Der Krieg ist noch nicht ins Bewußtsein gedrungen

Dieses Faktum hatte François Hollande sehr wohl verstanden, als er unverzüglich den Befehl erteilte, die französischen Luftschläge in Syrien zu intensivieren, während er sich selbst in eine ausgedehnte diplomatische Rundreise stürzte. „Diesmal ist es Krieg“, haben Hollande und sein Premierminister Manuell Valls erklärt. Das stimmt, aber es ist in den Köpfen noch nicht ins Bewußtsein gedrungen. Auf die Attentate des 13. November antworteten die Franzosen in gemessener Wortwahl, welche vornehmlich dem humanitären, rührend-fürsorglichen Repertoire entstammt. Sie gedachten der Opfer, hielten Schweigeminuten ab, legten Blumen nieder und entzündeten Kerzen, wie sie es auch nach einem Blutbad tun, welches ein Verrückter in einer Schule verübt. In ihren Augen sind die Attentate im Endeffekt auf die Entfesselung einer unverständlichen Gewalt rückführbar, für die diejenigen verantwortlich sind, „die den Tod lieben“, und deren Opfer jene sind, die „das Leben lieben“. Dieses Vokabular, diese Haltung, diese Reaktionen sind nicht die Reaktionen von Menschen, die verstanden haben, was Krieg bedeutet. Die Zeremonie im Invalidenhof war dazu angetan, zu weinen, sie hatte jedoch keinen kämpferischen Impuls.

Abgesehen von den Kolonialbefreiungskriegen (Indochina, Algerien) befindet Frankreich sich seit siebzig Jahren im Frieden. Das heißt, nicht nur die junge Generation hat den Krieg niemals kennengelernt, auch ihre Eltern kannten ihn kaum mehr. Im Bewußtsein der Mehrheit der Europäer ist Krieg als solcher vorbei, jedenfalls hierzulande. Ungeachtet der Ereignisse, die Ex-Jugoslawien verheerten und die derzeit in der Ukraine passieren, haben sie das Gefühl, daß in Frankreich (und in Europa) der Krieg unmöglich geworden sei. Daß wir in einem Friedenszustand lebten, der nichts anderes als fortdauern könne.

Natürlich wissen die Franzosen, daß ihre Armee „Operationen“ im Ausland durchführt, aber das mutet wie etwas an, das sie nichts angeht. Zumal die Schauplätze weit weg sind. Daher sprechen sie auch von „apokalyptischen Szenen“, wenn sie die Pariser Attentate, die 130 Tote forderten, beschreiben. Welche Worte hätten sie wohl für die Beschreibung jener Momente des Ersten Weltkrieges gewählt, in denen die Kämpfe mehr als 20.000 Tote pro Tag forderten? Es bleibt ihnen vorbehalten, zu begreifen, daß der Frieden eine fragile Angelegenheit ist und womöglich niemals der dauerhafte natürliche Zustand einer Gesellschaft.

Der Front National liegt in Umfragen vorn

Auf der politischen Bühne suchte François Hollande seine Popularität zu stärken, indem er in der Pose des Kriegsherrn auftrat, jedoch hat diese Attitüde kaum Früchte getragen. Viele Opferfamilien, die es ablehnten, an der „nationalen Ehrung“ im Invalidenhof teilzunehmen, haben wissen lassen, daß sie die aktuelle Regierung sogar in erster Linie als verantwortlich für die Attentate betrachten, da sie nicht in der Lage gewesen sei, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, die es erlaubt hätten, Frankreich zu schützen. Es sind die Schwachstellen des französischen Nachrichtendienstsystems, auf die hier mit dem Finger gezeigt wird.

Am Vorabend der Regionalwahlen belegen Meinungsumfragen, daß die Gefühlswelt sehr vieler Franzosen nach den Attentaten vor allem den Front National begünstigt, der wiederum keine Mühe hat, zu erklären, daß die Dinge sich hätten anders abspielen können, wenn man auf die Partei von Marine Le Pen gehört hätte. Die Entscheidung der Regierung, den Ausnahmezustand auszurufen, die Grenzen zu schließen (was Manuel Valls vor einigen Wochen noch für „unmöglich“ erklärt hatte), das Stoppen der Flüchtlingsströme, welchen Angela Merkel leichtsinnig die Pforten geöffnet hat, zu fordern – das alles erscheint vor diesem Hintergrund wie eine „Rückkehr zum Realismus“. Aktuell erreicht der Front National bei Umfragen 30 bis 40 Prozent, was ihn zur stärksten Partei Frankreichs machen würde. 

Die Linke ist mehr denn je gespalten in jene, die sich angesichts der Umstände darin schicken, die Notstandsmaßnahmen, welche seit langem von der Rechten gefordert wurden, zu akzeptieren und jenen, die – unermüdlich und immer noch – glauben, daß man in erster Linie gegen die „Islamophobie“ kämpfen müsse (in direkter Kontinuität des Kampfes um die „Ehe für alle“ und das Verschwinden der „Geschlechtsstereotypen“ in der Schule). Auch wenn es offensichtlich ist, daß die große Mehrheit der Moslems in Frankreich den Dschihadismus ohne Wenn und Aber verurteilt, hat dies doch nur den Effekt, den ohnehin schon immensen Graben zwischen der Linken und dem Volk weiter zu vertiefen. 

Michel Houllebecq, dessen Roman „Unterwerfung“ (JF 6/15, 11/15) oft irrtümlich als „Mahnung“ interpretiert wurde, hatte nicht unrecht, als er kürzlich in einem Gespräch erklärte, daß ein „Abgrund“ derzeit die französische Bevölkerung von jener politischen Klasse trennt, die sie repräsentiert. Die Frage wird sein, wer in diesen Abgrund stürzt.






Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis.