© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Die Welle ebbt erst einmal ab
Türkei: In der westtürkischen Hafenmetropole Izmir ist nur eine Handvoll Migranten zu sehen / Vorwürfe in Richtung türkische Regierung
Billy Six

Die Situation rund um die Metro-Station Basmane im Zentrum der westtürkischen Hafenstadt Izmir hat sich entspannt. Auf der Straße schlafende Migrantenmassen sind verschwunden. Auch über dem Eisenzaun der anliegenden Moschee hängen keine  gewaschenen Kleidungsstücke mehr. Nur noch gut ein Dutzend Migranten nächtigt verdeckt im Seitenhof des Gebetshauses. Vereinzelt hocken Frauen und Kinder aus Syrien entlang der Hauptstraße Richtung Hafenpromenade, um zu betteln oder Taschentücher zu verkaufen. Auch Tarik und Familie aus dem syrischen Hussaka laufen an dem „Schlepperbasar“ vorbei. Ihre geplante Überfahrt – auf welche griechische Insel sie gebracht werden, wissen sie nicht – verzögere sich aufgrund der Wetterlage, sagen sie. 

„Sie sind Gäste hier, ohne Arbeitserlaubnis“

Freiwillige Helfer aus Deutschland und Frankreich kommen enttäuscht von den vorgelagerten Inseln zurück – Ende November seien nur noch wenige „Schutzbedürftige“ angekommen. Der prägendste Hinweis darauf, daß laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf Monatssicht dennoch 110.000 Auswanderer von hier ins benachbarte Griechenland übergesetzt haben, ist das breit ausgestellte Sortiment orangefarbener Schwimmwesten in den Straßengeschäften. 

Für umgerechnet 30 Euro ist ein Stück zu haben. Mindere Qualität unter der Hand ist auch billiger. Preise für eine Überfahrt im wackligen und überladenen Schlauchboot kosteten zuletzt nur noch 1.200 Euro pro Person. Dies könnte ein Grund dafür sein, daß seit dem Tod des syrisch-kurdischen Flüchtlingsjungen Aylan Anfang September immer wieder von Ertrunkenen in der Ägäis berichtet worden ist. Auch schlechtere Wetterbedingungen im Herbst, vor allem erhöhter Wellengang werden angeführt, um zu erklären, wie es dazu kommt, daß die gerade mal zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegenden Inseln Chios und Lesbos – der Abstand nach Samos und Kos ist sogar noch geringer – nicht immer sicher erreicht werden. 

Für den iranisch-kanadischen Fotoreporter und Wahrheitssucher Rod M., der die Migrantenroute vor Ort untersucht, liegt eine Verschwörung vor: „Erdogans Regierung und die Menschenschmuggler arbeiten zusammen“, behauptet er. „Die Türkei nutzt den Migrantenstrom und die Bilder toter Menschen, um Druck auf die EU aufzubauen. Dafür werden sogar die Boote vor dem Start sabotiert.“ Beweise dafür hat der Reporter nicht. Klar sei nur, daß sich die bis vor kurzem absturz-gefährdete AKP-Führung nun in politischem Erfolg sonnen kann – Anfang November eroberte die Partei bei der Parlamentswahl-Wiederholung die absolute Mehrheit zurück. 

Nun haben die Staats- und Regierungschefs der EU auch noch weitreichende Zugeständnisse gemacht: Bis spätestens Oktober 2016 soll die Visumspflicht für Türken wegfallen. Ankara erhält finanzielle Zuwendungen, beginnend mit drei Milliarden Euro für die Versorgung von Kriegsflüchtlingen aus den Nachbarländern Syrien und Irak. Mit der Ausstellung von Asyl-Visa sollen Kontingente orientalischer Menschen auf legalem Wege in die EU umgesiedelt werden. Und im Zuge einer „Vertiefung des politischen Dialogs“ soll es dazu zur Reanimierung der EU-Beitrittsgespräche für die Türkei kommen. 

Im Gegenzug versprechen die türkischen Verhandlungspartner, die eigenen Außengrenzen wirksamer gegen illegale Durchwanderung zu schützen. Syrer sprechen bereits von einer verstärkten Abschottung der einst löchrigen Grenze zum Kriegsland – ausgerechnet dort, wo tatsächlich Notwendigkeit bestehen könnte, daß Menschen sich vor Gewalt in Sicherheit bringen. 

Auch wenn im Raum von Edirne, dem europäischen Teil der Türkei, aktuell keine Anzeichen der Völkerwanderung zu erkennen sind – so registrieren Helfer in Belgrad täglich 100 bis 300 Migranten, vor allem Afghanen, welche angeben, Bulgariens Grenzsperranlage zur Türkei überwunden zu haben. 

Für Furkan Devran, einen Sprecher der türkischen Nichtregierungsorganisation „ASAM“ in Izmir, ist das menschliche Leid Ergebnis einer „selbstsüchtigen und eurozentrischen EU-Politik“. Auch er spricht von einer Verschwörung, basierend auf Gesprächen mit von der Küstenwache aufgegriffenen Migranten: Demzufolge seien es vermutlich griechische Marine und die EU-Grenzschutzagentur Frontex, welche auf hoher See die Motoren der Grenzübertreter-Boote wegnähmen. Offiziell abweisen dürfe man Asylsuchende aufgrund internationaler Abkommen schließlich nicht. „ASAM“, die „Gesellschaft für Solidarität mit Asylbewerbern und Migranten“, ist landesweit aktiv – unter anderem, um für das UNHCR „schutzbedürftige Fälle zur Umsiedlung“ in andere Länder  aufzuarbeiten. Devran gibt zu, daß die Türkei eine Politik der Neuansiedlung und Integration nicht mitmache: Die zwei Millionen Flüchtlinge, darunter 250.000 Syrer in den Lagern, seien als Gäste hier, ohne Arbeitserlaubnis.