© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

Über eine Osterweiterung der Nato wurde nicht gesprochen
Der langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher blickt zurück: Klare Aussagen zu den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen 1990
Detlef Kühn

Elder Statesmen sind überall auf der Welt der Versuchung ausgesetzt, auch nach ihrem Ausscheiden aus ihren Ämtern die Öffentlichkeit weiterhin über ihre Beurteilung der politischen Entwicklungen zu informieren und dabei nicht zuletzt auch ihre Beiträge aus der Vergangenheit zu erklären und in das vermeintlich richtige Licht zu rücken. Dieser Versuchung ist nun auch der inzwischen 88jährige FDP-Politiker und „ewige“ Außenminister (von 1974 bis zu seinem überraschenden Rücktritt 1992) – wie er im politischen Bonn scherzhaft genannt wurde – erlegen. 

Nach einem über tausend Seiten umfassenden Band aus dem Jahr 1995 mit „Erinnerungen“ legt er nunmehr ein deutlich lesbareres Buch in Gesprächsform vor, das auch, aber nicht nur, die seitdem vergangenen zwanzig Jahre behandelt. Es besteht nach einer Einleitung aus drei Teilen: „Die Welt im Umbruch“, „Der Weg zur deutschen Einheit“ und „Vermächtnisse“. In letzterem Kapitel würdigt er zutreffend die wichtige Rolle, die die FDP vor allem in der Deutschlandpolitik zur Zeit der Teilung gespielt hat. Daß ihr späteres Schicksal ihn „sehr schmerzt“, glaubt man ihm aufs Wort. Die FDP befinde sich „in einem inneren Lähmungsprozeß,“ stellt er fest. Die möglichen Ursachen für diesen Prozeß werden jedoch nicht erörtert.

Uneinsichtigkeit zu den Fehlern der Europapolitik

Stattdessen widmet er sich der „Vollendung der europäischen Einigung“, auf die er mehrfach zurückkommt, ohne dabei zu erklären, unter welchen Bedingungen er diese Vollendung erreicht sieht. Das ist insofern konsequent, als auch die FDP unter seiner Führung in den siebziger und achtziger Jahren nie entscheiden konnte oder wollte, ob sie nun in Europa einen Bundesstaat à la USA schaffen oder sich mit einem Bündnis funktionierender, eng kooperierender Nationalstaaten begnügen wollte. 

Diese Entscheidungsschwäche hat sicherlich zum Scheitern der FDP in der Eurokrise beigetragen. Nun sagt Genscher, man könne die Probleme der Währungsunion nur mit dem Fehlen einer gemeinsanen Wirtschafts- und Finanzpolitik erklären. Ja, hat er das denn damals noch nicht gewußt? Jetzt will er nachbessern, um diesen Geburtsfehler des Euro zu beseitigen. Daß das auf die Abschaffung der Souveränität der Nationalstaaten in Europa hinausläuft, stört ihn im Gegensatz zu den meisten Europäern nicht. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Augen zu und durch! Das war schon immer das Motto von Ideologen. Aber jetzt glaubt in der Europapolitik auch der angeblich liberale Genscher daran. Wer ihm folgt, wird jedoch genauso scheitern wie die Gefolgschaft des Kommunisten Erich Honecker, von dem  das bekannte Zitat stammt.

Zum Schluß sei noch auf eine außenpolitische Kontroverse hingewiesen, die im Hinblick auf Diskussionen, die nicht zuletzt auch in dieser Zeitung geführt wurden, von Interesse sein könnte. Es geht um Putins Ukraine-Politik und die Frage, ob die Nato-Osterweiterung zur Begründung oder gar Rechtfertigung seines Vorgehens dienen könnte. Genschers Antwort: Im Vorfeld der Verhandlungen über den Zwei-Plus-Vier-Vertrag sei nur über die Nato-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands gesprochen worden, nicht über die anderer Länder. Schließlich bestand der Warschauer Pakt, das Gegenstück zur Nato, noch und sei erst im Sommer 1991 aufgelöst worden. Es habe nie eine mündliche oder schriftliche Vereinbarung gegeben, wer Mitglied der Nato werden könne oder nicht. Alle Vereinbarungen hätten sich auf das vereinte Deutschland bezogen. 

Auch Gorbatschow habe vor einem Jahr in Berlin klargestellt, daß es keine Nebenabreden gegeben habe, und anderslautende Behauptungen zurückgewiesen. Das stützt eben die Aussagen des damals beteiligten bundesdeutschen Außerministers. Allerdings macht Genscher in diesem Zusammenhang „Europa“ den Vorwurf, auf ein öffentlich bekundetes Angebot Putins aus dem Jahr 2001 zu Verhandlungen über eine Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok nicht reagiert zu haben. Das hätte vielleicht Putin auch in der Ukraine positiv beeinflußt, meint er. Ein Russe würde dazu sagen: „Gott weiß es!“

Hans-Dietrich Genscher: Meine Sicht der Dinge. Im Gespräch mit Hans-Dieter Heumann. Propyläen Verlag, Berlin 2015, gebunden, 190 Seiten, Abbildungen, 22 Euro